Hätte E.L. James ihre Fifty Shades Of Grey schon im 15. Jahrhundert verfasst, wäre sie für ihr sittenwidriges “Hexenwerk” wohl auf der Stelle verbrannt worden. Anders herum zucken wir heute angesichts der derb-freizügigen Geschichten im 600 Jahre alten Decamerone nur noch mit den Schultern - und fassen Boccaccios Novellensammlung sogar als den Ursprung der italienischen Prosa auf.

Erotik Literatur, dieses heiße Eisen der Literaturgeschichte, ist ein dehnbarer Begriff. Vom umjubelten prosaischen Meisterwerk bis zum Schmuddelromänchen, von Pornographie bis zu Hausfrauen-SM: Seit es den Buchdruck gibt, hat Sex auch immer zwischen Buchdeckeln stattgefunden. Was dabei als Skandal galt und was nicht, war weniger dem Inhalt geschuldet als dem vorherrschenden Zeitgeist.

Im 15. Jahrhundert wurde es heiß

Als ältestes Werk der erotischen Literatur gilt vielen das "Kamasutra", ein indischer Leitfaden über die Erotik aus dem 3. oder 4. Jahrhundert, in dem unter anderem verschiedene Liebesstellungen illustriert sind. So richtig in Schwung kam die erotische Literatur allerdings erst mit Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Es war die Zeit der Renaissance, der Wiedergeburt des antiken Geistes, der mit einer Rückbesinnung auf die Wissenschaften und auf die Kunst einherging. Der Mensch schob sich in den Mittelpunkt des Denkens - und dazu gehörte auch der menschliche Körper.

Das Decamerone

Boccaccios Decamerone wurde verbreitet, eine Novellensammlung, in der sich, vor der grassierenden Pest geflüchtet, sieben Frauen und drei Männer in einem herrschaftlichen Landhaus gegenseitig Geschichten erzählen - auch solche erotischer Natur. Obwohl Sex dort nur blumig umschrieben und Genitalien nie direkt benannt werden, verurteilte vor allem die Kirche Boccaccios Werk. In der Welt der Literaten dagegen galt es schon damals als Meisterwerk.

Die Philosophie im Boudoir

Im 17. Jahrhundert kam die leidenschaftliche Liebe in Mode - allerdings zunächst in Form von selbst auferlegtem Liebesverzicht. Es wurde geschmachtet statt vollzogen. Der nächste Skandalautor machte dann auch erst im 18. Jahrhundert, mitten im Zeitalter der Aufklärung, von sich Reden: Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade. Der lebte ein skandalöses und orgiastisches Leben, zu dem auch Gruppensex und erzwungene sexuelle Handlungen mit Angehörigen beiderlei Geschlechts gehörten.

Seine beiden Romane Juliette und Justine gerieten als verbotene Raubdrucke unters Volk. Darin geht es um zwei Schwestern, von denen eine einen tugend- und die andere einen unsittlichen Weg wählt. Pornografie und sexuelle Gewaltfantasien durchziehen die Werke der erotischen Literatur. De Sade selbst landete mehrfach im Gefängnis und starb schließlich in einer Irrenanstalt. Sein Name stand Pate für den Begriff des Sadismus.

Les liaisons dangereuses

Ebenfalls aus dieser Zeit, in der Wissenschaft und Vernunft als höchstes Gut galten und zu Toleranz und dem Niederreißen von Vorurteilen aufgerufen wurde, stammt der opulent verfilmte Briefroman Gefährliche Liebschaften von Choderlos de Laclos. Im Zentrum steht ein Adelspärchen mit ausschweifendem, sich gegen konventionelle Normen richtenden Lebensstil - ein Skandalerfolg unter den Lesern.

Geschichte meines Lebens

Ein weiterer Zeitgenosse war Giacomo Casanova. Seine Memoiren sorgten wegen der darin beschriebenen erotischen Abenteuer für Aufsehen und wurden gerade in den zahlreichen Übersetzungen teils drastisch zensiert. Bis heute haftet Casanova der Ruf als größter Liebhaber aller Zeiten an.

Im 19. Jahrhundert: Rückkehr zu Prüderie

Anna Karenina

Im 19. Jahrhundert folgte nach der französischen Revolution eine Rückkehr zu Prüderie und dem Ideal der Enthaltsamkeit. Das spiegelte sich auch in der erotischen Literatur. Was damals als Affront galt und zum Luftschnappen anregte, hatte nichts mehr mit ausgesprochener Erotik zu tun. Die Ehe wurde gefeiert, Fremdgehen wurde angeprangert - vor allem bei Frauen. Weibliche Sexualität wurde regelrecht verurteilt. Effie Briest von Theodor Fontane, Leo Tolstois Anna Karenina und Gustave Flaubert's Madame Bovary sind Beispiele von Ehebruch-Romanen, die damals verpönt waren, obwohl nirgendwo in ihnen der Geschlechtsakt ausdrücklich beschrieben wurde.

Lolita

Die Prüderie hielt auch im 20. Jahrhundert an. Mehrfach “bereinigt” wurde deshalb auch D.H. Lawrence’s Lady Chatterley’s Lover von 1928, in dem ein gelähmter Kriegsheimkehrer seiner Ehefrau erlaubt, sich einen Liebhaber zu nehmen. Heute für seine expliziten Liebesszenen berühmt, dauerte es bis in die 60er Jahre, als der Roman zum ersten Mal unzensiert erschien.

Dagegen bis heute verrucht, zwiespältig betrachtet (und weltberühmt): Vladimir Nabokov’s Lolita von 1955, in der ein Ich-Erzähler lustvoll seine pädophile Leidenschaft zu einer am Anfang des Romans erst 12-Jährigen beschreibt. Als “Lolita” werden in Anlehnung an den Buchtitel bis heute frühreife Mädchen bezeichnet. Der “Lolita-Komplex” beschreibt umgekehrt das sexuelle Verlangen eines Mannes in den mittleren Jahren nach sehr jungen Frauen.

Dann aber ging es so richtig los mit erotische Literatur, was heute unter FSK 18 fällt. Mit dem Siegeszug der Anti-Baby-Pille, mit der Kultur der “freien Liebe” der späten 60er und frühen 70er brach sich die Erotik Literatur in ganzen Fluten Bahn. Das Medium Film kam ebenfalls ins Spiel - und damit auch das neue Genre des Pornofilms. Telefonsex. Schmuddelheftchen. Sexbomben wie Marylin Monroe. Lust war überall. Nur in Amerika blieb man zugeknöpft. Erotik Literatur für Erwachsene wie Henry Millers Tropic of Cancer wurde in den USA aus den Regalen verbannt, Verfilmungen wie Charles Webbs “Die Reifeprüfung” blieben die Ausnahme.

Erotische Literatur heute: Die große Freiheit?

Die erotische Literatur der Gegenwart hat inzwischen viele Spielformen angenommen. Ob Vampir-Schmonzette, “heißer” Krimi oder “Mommy Porn”, ob homoerotischer Roman oder Chic Lit mit Extraprickeln, ob Urban Fantasy mit queerem Sex oder New Adult, hinter der sich Jugendbücher ab 18 Jahren verbirgt - (fast) alles ist inzwischen erlaubt. Skandale sind selten geworden. Zensur gehört der Vergangenheit an. Ab und zu macht aber ein Titel von sich Reden, der für Diskussionsstoff, geteilte Fronten und hohe Verkaufszahlen sorgt.

Salz auf unserer Haut

1988 wurde Salz auf unserer Haut von Benoîte Groult als “pornografisch” angeprangert. Dennoch - oder gerade deswegen - stieg die mit reichlich Sexszenen gespickte Liebesgeschichte zwischen einer gebildeten Pariserin und einem einfachen bretonischen Fischer auch hierzulande in die Bestsellerlisten und wurde hoch erfolgreich verfilmt.

Feuchtgebiete

In Deutschland sorgte 2008 Charlotte Roches frecher Roman Feuchtgebiete um Sex, Krankheiten und Körperflüssigkeiten für Aufruhr. Von den einen für ihren Mut und ihre Offenheit gefeiert, fanden die anderen Roche’s Geschichte über die Fetische und Eskapaden einer Krankenhauspatientin einfach nur abstoßend. Auf jeden Fall gehörte Roche bereits zur aufkeimenden weiblichen Empowerment-Bewegung, die Gleichberechtigung auch Bezug auf die Darstellung weiblicher Sexualität einfordert.

Fifty Shades of Grey 1: Geheimes Verlangen

Mit dem globalen Zugang zum Internet fielen letzte Schranken. Dinge wurden salonfähig, die früher noch als abartig verschrien waren. Der Marquis de Sade hätte jedenfalls seine wahre Freude daran gehabt, hätte er miterlebt, wie die zunächst als Twilight Fanfiction verfasste, softe Sado-Maso-Geschichte von E.L. James als Fifty Shades Of Grey zum weltweiten Phänomen wurde und brave Hausfrauen im Baumarkt aus ganz neuen Gründen zu Seil und Kabelbindern greifen ließ.

Sinful King

Im Bugwasser folgten die ganz ähnlich gelagerte Crossfire-Reihe von Silvia Day und Anna Todds After-Serie. In allen verliebt sich eine mehr oder weniger naive junge Frau in einen “bösen Buben”, der sie in die etwas anders geartete Kunst der Liebe einführt. Oft als “Mommy Porn” tituliert, holen diese prickelnden Bücher SM- und Fetisch-Praktiken zwar endlich aus der Schmuddelecke, betreten jedoch eine Grauzone, wo sich Abhängigkeit, sexuelle Gewalt und Unterwerfung die Hand geben. Gerade für Jugendliche ist solche erotische Literatur immer noch kritisch und facht eine Diskussion über Jugendschutz auch bei Büchern immer wieder an.

Wenn man sich die erotische Literatur 2019 einmal anschaut, so stellt man fest: Alles ist offener geworden, und viele Subgenres haben sich herauskristallisiert, aber manche Klischees sind auch die gleichen geblieben. Man schaue sich nur mal den Romance-Bereich an, in dem starke, einschüchternde Kerle haufenweise nicht ganz so starke Frauen verführen. Die Sinful Empire-Reihe von Meghan March ist ein aktuelles Beispiel. Heiß, vorhersehbar und offensichtlich unwiderstehlich.

Die juten Sitten

Doch es gibt auch ungewöhnliche Farbklekse im FSK 18-Bereich, wie das Audible Original Hörspiel Die Juten Sitten zeigt. Frivol und frech, lässt es die goldenen Zwanziger wieder auferleben und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Kokett, ehrlich und dreckig, ist das ebenso ein damaliges Zeitgeist-Porträt wie ein Beispiel für den modernen Umgang mit erotischen Inhalten - vorsichtshalber mit der Warnung “für Hörer unter 18 Jahren nicht geeignet” versehen.

Ob diese Warnung ein Jahrhundert weiter überhaupt noch Bestand hätte oder ob - im Gegenteil - die Macher vors Sittengericht gezerrt würden? Gute Frage. Denn auch wenn erotische Literatur über die Jahrhunderte eine Befreiung erfahren hat, gibt es auch immer den züchtigen Gegenpol. Und welche Seite in Zukunft die Oberhand behält, bleibt abzuwarten. Nur eins ist sicher: ob heimlich unter der Bettdecke oder ganz ungeniert in aller Öffentlichkeit - erotische Literatur wird es immer geben, und wir werden sie immer lustvoll lesen.

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