Die Iren erzählen gerne. Das haben sie schon immer getan, und zwar nicht nur über einem Pint Guinness in einem Pub am St. Patrick's Day. Erzählen - ausschweifend, dramatisch - ist uralte irische Tradition. Von den keltischen Sagen der Druiden bis zur heutigen irischen Literatur war es ein langer, nicht immer grüner Weg. Ein besonderer Weg, geprägt von der Kultur und Geschichte des wetterfesten und krisenerprobten Inselvolks, das wir so lieben.

Von Göttern, Feen und Kobolden

Die Mythen und Sagen Irlands bildeten die Wiege der irischen Literatur - und zwar damals, vor dem Mittelalter, in rein mündlicher Form. Unter den Druiden und Barden war das schriftliche Festhalten der Geschichten sogar verpönt! Gottheiten schweiften durch diese Erzählungen. Naturgeister, beseelte Dinge, magische Tiere fanden sich darin. Auch der Leprechaun, der irische Kobold, der am Ende des Regenbogens über einem Topf voll Gold wacht, entstammt dieser Welt der Mythen und Märchen - und dient bis heute als Vorbild für Fantasy-Figuren.

Es war den Mönchen zu verdanken, dass die alten Geschichten ab dem 6. Jahrhundert schriftlich festgehalten wurden. Das frühe Mittelalter strotzte vor Heldenerzählungen, die von königlichen Hofdichtern, den sogenannten “fili” nach strengen Regeln vor Publikum in mitreißender Performance dargeboten wurden. Es ist dieser Charakter des blumig-ausschmückenden Erzählens mit übernatürlichen Elementen, der irischer Literatur eine besondere Note verpasst und vermutlich ihr berühmtestes Genre, die Kurzgeschichte, hervorbrachte.

Das Kreuz mit den Engländern

Im 12. Jahrhundert wurde Irland zur englischen Kolonie. Die Engländer brachten neben Adelstiteln und protestantischem Glauben auch Bildung mit. Sie konnten lesen und schreiben und hingen der europäischen Schriftkultur an. Sie kamen auch mit einer neuen Sprache - Englisch - denn die Iren sprachen damals Gaeilge, das dem Keltischen entstammende Irisch. Die entstehende Zweisprachigkeit war ein weiterer prägender Faktor für die irische Literatur.

Hatte die katholische Kirche Land und Kultur bis dahin stark beeinflusst, so sorgten die gebildeten protestantischen Engländer im Norden und Osten Irlands mit ihrer Ankunft für bleibende Unruhe. Welten prallten aufeinander, und die Vormachtstellung Englands wurde auch in der Literatur zum Thema. Gullivers Reisen von Jonathan Swift aus dem Jahr 1726 ist eine bitterböse Satire aus dieser Zeit, die auch den englischen Machthunger und Herrschaftsanspruch zerpflückte. Eins der ersten großen Werke der irischen Literaturgeschichte.

Irische Schriftsteller, die es in sich haben

Horror, Gespenster und Übernatürliches

Ein Ire schuf im darauf folgenden 19. Jahrhundert die wohl berühmteste Gruselgestalt der Horrorliteratur: In Bram Stoker’s gleichnamigem Roman betritt der Vampir Dracula das erste Mal die Bühne eines Schauerromans. Stoker guckte sich dabei ein bisschen was vom irischen Autor Sheridan Le Fanu ab, und der wiederum hielt ja nur fest, was sich schon lange in dunklen irischen Nächten vom Volksmund erzählt wurde. Dennoch: Bis heute dient die Mischung aus Abenteuer-, Liebes- und Horrorgeschichte über den blutrünstigen rumänischen Grafen als Vorlage für ein komplettes Genre und wird immer wieder neu geschrieben und verfilmt.

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Mit dem Übernatürlichen spielte auch ein weiterer berühmte irischer Dichter herum: In Das Bildnis des Dorian Gray schuf der Exil-Ire Oscar Wilde, ein enfant terrible der englischen Society, 1890 eine Figur, die nur im Spiegelbild altert. Drei Jahre zuvor ließ er in der zauberhaften Erzählung Das Gespenst von Canterville ein sich nach dem Tode sehnendes Gespenst einer amerikanischen Familie um die genervten Ohren spuken. Gesellschaftskritik und der irische Hang zum Paranormalen vereinen sich hier perfekt.

Die spielerische und kinderverträgliche Seite der irischen Märchenliebe ist in den Chroniken von Narnia von C.S. Lewis verewigt. Durch einen Schrank schlüpfen und in einer magischen, wenn auch gefährlichen Welt landen - diese geniale Idee und die daraus entstehenden Abenteuer haben ein Universum erschaffen, das bis heute Kinder wie Erwachsene fesselt und verzaubert.

Und der Nobelpreis geht an… Irland!

Bezeichnend für die Qualität der irischen Literatur: Die grüne Insel hat etliche Nobelpreisträger hervorgebracht. Der erste von ihnen war der große, romantische Dichter William Butler Yeats im Jahr 1923. Er gehörte zu den Autoren, die die Irische Renaissance unterstützten - eine Rückbesinnung auf die irische Identität und Kultur. In seine Fußstapfen traten kurz darauf George Bernard Shaw (sein Pygmalion wurde Vorlage für das Musical My Fair Lady) und Samuel Beckett, dessen existentialistisches, absurdes Theaterstück Warten auf Godot bis heute viel aufgeführt wird. Als Letzter wurde 1995 der Lyriker Seamus Heaney gekürt.

James Joyce - irische Ikone

Der berühmteste irische Autor ist unbestritten James Joyce. Der gehörte zwar zur sogenannten “Diaspora” der im Ausland lebenden irischen Schriftsteller, blieb im Herzen aber der Heimat treu. Seine Kurzgeschichtensammlung Dubliners ist ein vibrierendes, realistisches Porträt des Lebens rund um die Hauptstadt im 20. Jahrhundert und wesentlich einfacher lesbar als der experimentelle Roman Ulysses, in dem sich über komplette Seiten ziehen. Am 16. März jeden Jahres wird Joyce und der Hauptfigur aus “Ulysses” am “Bloomsday” in Veranstaltungen und Aufführungen gedacht - was nicht selten in einer trinkfreudigen Pub-Tour endet.

Zwischen grüner Romantik und rauer Realität

Die Themen der zeitgenössischen irischen Literatur sind vielfältig und oft gegensätzlich. Zum einen besingen sie das Idyll des einfachen Mannes zwischen Pub und ländlicher Romantik. Zum anderen beschäftigen sich Autoren mit den modernen Flüchen der Großstadt, mit Kriminalität, Drogen, Sex, Gewalt. Die Zerrissenheit des einst blutigen Konflikts zwischen dem katholischen Irland und dem protestantischen Nordirland fließt ebenso mit ein wie die Sehnsucht nach einer perfekten Welt.

Und auch ein ganz spezieller Humor: Der Dubliner Roddy Doyle begründete mit seiner heiteren, urkomischen Darstellung eigentlich trauriger Figuren und Umstände in den 90ern das “comic writing” und rückte die nicht unterzukriegende irische Arbeiterklasse in den Mittelpunkt. Sein Roman The Commitments über eine Soulband wurde zum weltweiten Überraschungserfolg, auch als Film. Bei ihm liegen Tränen und Lachen ganz dicht beeinander.

Neues aus Irlands amourösem Universum: Sally Rooneys Roman Schöne Welt, wo bist du

Heute: Von Chic Lit bis Fantastik

Die Insel-Romantik von damals ist heute idyllischer Backdrop für “Frauenromane” und Chic Lit, wie sie von irischen Schriftstellern wie Maeve Binchy und Cecilia Ahern geschrieben werden. Kein Tiefgang, aber erholsame Flucht in gefühlige Landlust mit Happy End-Garantie. Ein anderes Mainstream-Genre, in dem sich auch die Iren etabliert haben, ist der Krimi/Thriller-Bereich: Tana French und Ken Bruen kehren die dunkleren Seiten Dublin’s und anderer Städte nach oben. Da prallt Realismus auf Idealisierung.

Die Liebe zum Märchen ist immer noch existent: John Boyne verknüpft in seinen Romanen Realität und Zauber mit historischer Aufarbeitung ernster Themen. Der Junge im gestreiften Pyjama war ein Welterfolg. Ganz anders fantastisch: Eoin Colfer’s bizarre Fantastik/Sci-Fi-Rreihe um das junge Genie Artemis Fowl. Fabelwesen zeigen sich hier gerne mal von ihrer bösartigen Seite. Auch das Epische der irischen Lust am Erzählen ist immer noch da. Das beweisen raumgreifende Romane wie die von Colum McCann (Transatlantik).

Hörbar Irisch

Gerade bei Hörbüchern im Originalton machen die besondere Melodik und Aussprache, von einheimischen Sprechern authentisch zelebriert, Irland zusätzlich sensorisch erlebbar. Der berühmte “Irish brogue” mit seinen gerollten R’s und seinem oszillierenden Rhythmus unterfüttert das Reichhaltige und Erzählerische des irischen Stils. Wer gut genug Englisch kann, sollte sich das nicht entgehen lassen.

A Portrait of the Artist as a Young Man
The Secret Place
Paddy Clarke Ha Ha Ha
Ulysses
PS, I Love You
Schöne Welt, wo bist du

Ein Prost auf die Iren

Wenn man zwischen den vielen englisch und amerikanisch klingenden Autorennamen also mal genauer hinschaut, entdeckt man: Die irische Literatur ist lebendig, und bei aller moderner Diversität und Einzug in den Mainstream sind die tiefen Wurzeln immer noch spürbar. Und James Joyce hin oder her - die irische Seele lebt in so viel mehr Büchern weiter als nur in den seinen. Da lohnt es sich, sich am St. Patrick's Day mal hinzusetzen - mit Guinness oder ohne - und die Kelten, Kobolde und kauzig-melancholischen Helden der grünen Insel mal näher zu betrachten. Sláinte!

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