Sebastian, kannst du dich noch an das erste Musikstück erinnern, das dich emotional so richtig umgehauen hat?

Mit 12 oder 13 Jahren hat mich die Neue Deutsche Welle stark geprägt, aber vor allen Dingen Depeche Mode. Das war die erste Single, die ich mir gekauft habe! (lacht) Natürlich hatte ich mir vorher schon den „Star Wars“-Soundtrack geholt oder Dschingis Kahn und ähnliche „Kindersünden“, wie Boney M und die Village People. Aber womit ich wirklich Emotionen und Erinnerungen verbinde, das ist Depeche Mode und „Shake The Disease“. Das kam 1985 als durchsichtige pinke Vinyl-Single heraus. Auf die war ich ganz besonders stolz! Ansonsten fand ich den brutal-brachialen Sound vom Electric Light Orchestra bei „Twilight“ tief beeindruckend. Und prägend. Später, als ich anfing, Schlagzeug zu spielen und ein berühmter Musiker werden wollte, hat mich die Erfolgsgeschichte der Beatles fasziniert. Ich habe über sie viele Bücher gelesen und mir daraufhin ihre Musik auch sehr genau angehört.

Playlist

Also warst du vor allem im Popbereich unterwegs?

Bei der klassischen Musik war es so, dass meine Mutter oft probiert hat, mich für Opern und Konzerte zu begeistern. Wir waren mehrfach in der Berliner Philharmonie, wo ich in der Regel einschlief. Aber dann hatte ich irgendwann dort ein Erweckungserlebnis – im wahrsten Sinn des Wortes – mit „Carmina Burana“ von Orff. Als der Chor einsetzte und mich aus dem Sitz haute, war ich mit einem Mal hellwach.

Das ist ja die berühmte Musik, die im Horror-Klassiker „Das Omen“ verwendet wurde.

Genau. Ein gewaltiges Klangerlebnis, bei dem man nicht schlafen kann. Grundsätzlich würde ich sagen, dass ich melodische Musik mag.

Du hast selbst lange Schlagzeug gespielt. Das ist nicht gerade ein Melodieinstrument …

Meine Psyche hat damals so getickt, dass ich auf der einen Seite in der ersten Reihe stehen wollte: als Frontmann oder Gitarrist einer Band. Aber dafür war ich nicht mutig genug. Trotzdem wollte ich den Takt angeben und nicht nur die Maultrommel oder Rassel spielen. (lacht) Drums waren da eine gute Alternative. Wenn sie gut gespielt werden, dann haben sie einen ordentlichen Wumms. Sie sind unverzichtbar für einen guten Song.

Auris

Spielst du heute immer noch?

Ja, ich habe mir inzwischen ein Hill-Drum-Set geholt, damit ich die Nachbarn nicht belästige und die Polizei nicht dauernd bei mir vor der Tür steht. Als ich in den 1980ern versuchte, meine Musikerkarriere zu starten, war so etwas total verpönt. Wegen der Drums habe ich damals Phil Collins gehört. Wenn die bei „The Edge of Night“ einsetzen oder bei „Against All Odds“ … das ist Wahnsinn! Jeff Porcaro ist einer der besten Drummer der Welt. Ich habe auch viel Rock gehört, weil da unglaubliche Sachen mit den Double Basses passieren. Vor ein paar Jahren war ich bei einem Live-Konzert von Depeche Mode in Berlin. Die hatten inzwischen einen Österreicher am Schlagzeig: großartig. Das war eine goldrichtige Entscheidung, sich als ehemalige Synthie-Rockband einen Live-Drummer zu holen, der besser spielt als jede Drum-Maschine.

Wo hörst du am liebsten Musik?

Ich bin ein klassischer Radiohörer und Zapper. Das liegt daran, dass ich selbst jahrzehntelang beim Radio gearbeitet habe. Und daran, dass ich viel mit dem Auto unterwegs bin; so wie jetzt. Aber mittlerweile gibt’s in den Autos keine CD-Player mehr. Seither höre ich Musik über Streamingdienste wie Spotify, wo ich selbst Playlisten erstellen oder mich bei den Playlisten von anderen einzuklinken kann.

Wie wichtig sind denn „Influencer“ für die Herausbildung eines eigenen Musikgeschmacks?

Sehr wichtig. Wobei die Freunde und Freundinnen im engeren Umfeld eine große Rolle spielten, als ich ein Teenager war. Es gibt einige Musikrichtungen, in die ich mich nicht vertieft hätte, wenn sie an unserer Schule nicht so im Trend gewesen wären. Da war Hardcore-Pop eher verpönt, Ska und Reggae mochte ich nicht so. Aber ich wurde großer Fan von The Cure und all den New-Romantic-Wave-Sachen. Wenn’s ein bisschen melancholisch wurde, hat’s mir gefallen. Selbst wenn die Drums nicht so im Vordergrund standen.

Der Augenjäger. Ein Audible Original Hörspiel

Mit Klassik ging es bei dir nicht weiter?

Nein, ich kann mir zwar jeden noch so bescheuerten Quatsch bei Popsongs merken, aber bei klassischen Werken habe ich große Probleme, auch nur die Namen der Stücke zu behalten. Nicht mal die Titel, die ich gut finde. (lacht) Ich weiß nicht, ob bei mir da irgendetwas fehlt. Denn ich höre sehr gerne klassische Musik und auch Klassik Radio, wenn ich Auto fahre. Genauso gern höre ich Filmmusiken. Je monumentaler, desto besser.

Was ist mit klassischen Thriller-Kompositionen, wie dem Soundtrack zu Hitchcocks „Psycho“ von Bernard Herrmann? Oder Musik von Franz Waxman und Ennio Morricone?

Ich finde auch Hans Zimmer und die anderen üblichen Verdächtigen gut. Aber ich habe die nicht auf meiner „Hot Rotation“. Das liegt auch daran, dass ich Musik höre, um Plots zu entwickeln beziehungsweise mit Figuren auf eine Reise zu gehen. Ich sitze dann im Auto, höre Musik und denke über eine Szene nach, die ich entweder gerade geschrieben habe oder noch schreiben will. Da wäre Musik, die emotional komponiert ist und Bilder im Kopf erzeugen soll, hinderlich. Dann kann ich keine eigenen Bilder entwickeln, sondern diese Musik triggert Bilder, die ich schon im Kopf habe. Meist von Filmen, die ich gesehen habe.

Psycho

Du fährst also nicht mit dem „Psycho“-Soundtrack nachts im Auto und entwirfst den nächsten Thriller mit einer toten Mutter im Keller?

Nee, nee. (lacht) Ein befreundeter Autor hat mir mal bei der Buchmesse erzählt, er habe beim Schreiben immer einen Soundtrack auf den Ohren. Ich habe das auch gleich ausprobiert mit der Musik zu den Hannibal-Lecter-Filmen. Da hatte ich sofort so viele düstere Bilder im Kopf, dass ich gar nicht mehr hinterherkam, das alles aufzuschreiben. Das war für mich zu verwirrend. Ich war nicht mehr Herr meiner eigenen Geschichte. Da habe ich gesagt: Ich brauche eine gewisse Abschottung beim Schreiben.

Kann man als Schriftsteller die Emotionalität, die Musik im besten Fall erzeugt, in Worte fassen?

Das ist schwer. Musik ist für mich neben Gerüchen der Emotions-Trigger Nummer 1. Ich glaube auch, dass Filme nicht nur deshalb so erfolgreich sind, weil sie einfacher zu konsumieren sind als Bücher oder Hörbücher. Es liegt auch daran, dass beim Film verschiedene Kunstgattungen zusammenkommen und Sprache und Bild durch Musik unterstützt werden.

Lässt sich das nicht übernehmen?

Mein Tipp ist, sich mal von Edgar Allen Poe „Der Rabe“ in der Version von Ulrich Pleitgen anzuhören. Da ist ein Symphonieorchester dabei. Da hat man das Gedicht von Poe, was für sich schon ein Monumentalwerk ist, und das wird subtil durch einen klassischen Soundtrack untermalt. Als ich das zum ersten Mal hörte, war mir klar: ‚Das musst du auch machen!‘ Ich wollte auf der Bühne mein Buch vorlesen und dazu einen Soundtrack laufen lassen. So ist die Idee zu meinen Soundtrack-Lesungen entstanden. Das habe ich inzwischen dreimal umgesetzt. Musik hilft ungemein dabei, Emotionen zu verstärken. Das heißt allerdings nicht, dass eine gute Musik aus einem mittelmäßigen Text ein Meisterwerk machen könnte. Das ist bei Filmen genauso: Da kann die beste Filmmusik auch keinen Murks retten.

Der Rabe und andere Spukgeschichten

Bringen Hörbücher und Hörspiele Musik und Wort zusammen?

Definitiv. Bei „Playlist“ – also der Hörspiel-Version, die bei Audible erscheint – ist extra ein Score komponiert und von einem realen Orchester aufgenommen worden.

Hat sich deine Musikauswahl mit den Jahren verändert?

Ich bin Jahrgang 1971, das heißt, dass ich meine Impulse nach wie vor häufig durchs Radio bekomme. Da höre ich einen Song, den ich dann über Shazam identifizieren kann. Dann suche ihn über einen Streamingdienst und schaue: Was hat der- oder diejenige noch so an Musik gemacht? Das war früher ähnlich: Wenn ich einen solchen Impuls bekam, kaufte ich mir gleich das ganze Album. Und ging auf Entdeckungsreise. Was sich definitiv verändert hat durch meine Kinder, ist, dass es inzwischen einfacher ist zu sagen: „Guck mal, das hat Papa früher gehört, als er so alt war wie du.“ Oder: „Wie findest du das – das war früher meine Lieblingsband?“ Und dann klickt man es auf Spotify an. So viele CDs könnte ich im Auto gar nicht bei mir haben, um so was alles zur Hand zu haben. Das hat sich durch die Digitalisierung von Musik enorm vereinfacht.

Der Seelenbrecher

Im Trailer zu deinem neuen Buch „Playlist“ heißt es über die 15-jährige Feline Jagow, die spurlos verschwunden ist: „Musik war ihr Leben.“ Und der Ermittler entdeckt, dass sie ihre Playlist kürzlich verändert hat. Die Frage lautet also: Sendet Feline mit der Auswahl der Songs einen versteckten Hinweis, wohin sie verschleppt wurde und wie sie gerettet werden kann? Ist Musik wirklich etwas, das „unser Leben“ sein kann?

Ich kenne niemanden, der von sich sagt: „Ich mag keine Musik.“ Niemanden! Das war auch der Grund, warum ich mal ein Buch nicht weiterlesen konnte, weil da die Hauptperson sagte, sie könne mit Musik nichts anfangen und höre deswegen keine. Zu dieser Figur habe ich keinen Zugang gefunden.

Sagt unsere Playlist – oder das, was früher im Plattenschrank stand – alles über uns als Person?

Bestimmt ist es ein guter Indikator, was für eine Person der- oder diejenige ist. Ich glaube, dass früher bei Schallplatten noch etwas dazukam. Bei einer Platte war das Cover viel wichtiger, heute ist es auf Briefmarkengröße zusammengeschrumpft. Aber früher waren das Kunstwerke. Man wollte bestimmte Platten besitzen, einfach nur, weil sie toll aussahen. Und deswegen ein Statement waren. Das fällt heute weg. Ansonsten glaube ich schon, dass die Kunst und Kultur, die wir in unserem Leben nutzen, etwas darüber aussagt, wer wir sind. Ich bin sogar der Meinung, dass man bei Dating-Plattformen seine Hörbuchsammlung und Playlists hochladen sollte. Dann guckt ein Algorithmus, wer mit wem matched. Daraus könnten ganz gute Beziehungen entstehen. Wenn man kulturell passt, kann es auch im weiteren Verlauf des Lebens klappen.

Das Geschenk

Haben deine Kinder Schallplatten?

Die wissen gar nicht, wie ein Plattenspieler funktioniert. (lacht). Sie sind mit ganz anderen Medien aufgewachsen – als Teil einer On-demand-Gesellschaft. Wenn man da nicht innerhalb einer halben Stunde seine Pizza geliefert bekommt, dann bezahlt man nicht. So sind wir inzwischen konditioniert. Und Songs will man auch per Knopfdruck haben – sofort! Das mag man für gut oder schlecht halten, aber meine Kinder kennen das nicht anders. Sie würden sich wundern, wenn ich sagen würde: „Willst du mal einen Song hören? Gut, dann fahren wir in die Stadt und gucken, ob’s den bei WOM gibt!“ Oder wie immer die Läden damals hießen. Wo man probeweise in ein Album reinhören konnte oder einem gesagt wurde: „Sorry, die Platte ist gerade ausverkauft. Müssen Sie morgen nochmal wiederkommen.“ Das begreifen junge Menschen gar nicht.

Worauf freust du dich bei „Playlist“ am meisten?

Dass etwas Neues passiert. Und nicht „more of the same“, also nicht „schon wieder ein Psycho-Thriller“ nach altbewährter Manier. Ich bemühe mich immer, auch in den Handlungen meiner Bücher, mich nicht zu wiederholen. Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich nochmal eine Soundtrack-Lesung machen werde. Das war mal neu, entsprechend war ich auch nervös, ob das aufgeht oder nicht … mit der Band und den Lichteffekten. Das hätte auch eine riesige Kakophonie werden können, bei der das Publikum mit der Bilderflut nicht klarkommt. Das Gegenteil ist eingetreten. Die meisten haben mich gefragt, wieso ich so etwas nicht schon früher gemacht habe.