Was ist eigentlich eine Stadt? Städte sind so komplex, dass wir beim Nachdenken über sie schnell an unsere Grenzen stoßen. Wenn Menschen Städte betrachten, nutzen sie darum Metaphern: die Stadt als Körper, als Maschine, als Lebewesen, als neuronales Netz - je nach Epoche.

Sprachbilder beschreiben Städte aber nicht nur – sie beeinflussen ganz konkret, wie Stadtplaner und Architekten Städte gestalten. In ihrem Buch „Leben in Metaphern“ schreiben George Lakoff und Mark Johnson:

„Neue Metaphern haben die Kraft, neue Realitäten zu schaffen.“

George Lakoff, Mark Johnson

Die Stadt aus Licht

Natürlich finden diese Metaphern auch Eingang in die Literatur – oder werden sogar erst von ihr geschaffen. Und oft greift die Kunst der Wirklichkeit dabei weit voraus.

Mittelalter: Die Stadt als einfacher Organismus

Ob es vor etwa 1450 überhaupt schriftliche fixierte Stadtplanung gab, ist umstritten. Mittelalterliche Städte wuchsen wohl eher organisch – und stießen mit zunehmender Größe an ihre Grenzen: Abwässer, Kot und Müll konnten nicht effizient abtransportiert werden, es fehlte an frischem Wasser, es stank. Krankheiten breiteten sich aus und rafften unzählige Menschen dahin. Autoren wie Rebecca Gablé oder Ken Follet beschreiben das Leben in der mittelalterlichen Stadt strotzend vor Sinneseindrücken.

Jonah - Das Imperium

Dem Universalgenie Leonardo da Vinci waren diese Zustände zuwider. Er entwickelte schon Ende des 15. Jahrhunderts Pläne für eine „Citta ideale“, eine ideale Stadt auf mehreren Ebenen. Mit ihren unterirdischen Kanälen und oberirdischen Boulevards wäre sie ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus gewesen: luftig, hell, hygienisch. Realisiert wurden diese Pläne nicht. Schön für die Touristen, die bis heute verzückt im Gewirr mittelalterlicher Gässchen wandeln – schade für viele der damaligen Bewohner, die wegen der Pest und anderer Seuchen ihr Leben lassen mussten.

Leonardo da Vinci - Die Welt des Universalgenies

20. Jahrhundert: Die Stadt als Maschinenmonster

Mehr als 400 Jahre nach Da Vinci trat ein Architekt auf die Weltbühne, dessen Ideen ein ganzes Jahrhundert prägten: der Schweizer Charles-Édouard Jeanneret-Gris, bekannt unter seinem Pseudonym Le Corbusier.

Vom Charme natürlich gewachsener Strukturen hielt Le Corbusier nichts: Er plante radikale Großprojekte, denen „ein totalitärer Charakter nicht abzusprechen“ ist, wie Hans Kollhoff, Professor für Architektur an der ETH Zürich, es diplomatisch formulierte. Auf Rasterplänen angeordnete Hochhäuser und Hochstraßen, über die der Verkehr rauscht: Die von Le Corbusier begründete Architekturlehre orientierte sich an der reinen Funktionalität der Maschinen. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Erholung sollten fein säuberlich getrennt werden. Was logischerweise zu einer Menge Verkehr führte. Stanislaus von Moos interpretierte Le Corbusiers aufsehenerregenden Entwurf einer „Ville Contemporaine“ (also einer „zeitgenössischen Stadt“), von 1922 als gigantische Autofabrik.

Wie verloren sich die Menschen in diesen modernen Maschinen-Großstädten fühlten, schrieben die Expressionisten auf; Alfred Döblin etwa, vor allem aber die Lyriker. In den Großstadtgedichten von Gottfried Benn, Georg Trakl oder Mascha Kaléko verbindet sich Fortschrittshoffnung mit Endzeitgefühlen.

Berlin Alexanderplatz

Die Autoren dieser Zeit nahmen die Stadt als Maschinenmonster wahr, ultimatives Sinnbild für einen ungebremsten Kapitalismus – ohne Moral, ohne Menschlichkeit, brutal und anonym. Thea von Harbous schreibt in Metropolis, der Romanvorlage zum berühmten Stummfilm ihres Ehemanns Fritz Lang wortgewaltig:

„Die große, herrliche, fürchterliche Stadt Metropolis brüllt auf und verkündet, dass sie Hunger hat nach neuem Menschenmark und Menschenhirn, und das lebendige Futter wälzt sich wie ein Strom in die Maschinensäle.“

Philip Reeve hat die Idee der mörderischen Stadt-Maschine in seiner dystopischen Steampunk-Romanreihe Mortal Engines auf die Spitze getrieben: Hier wird die Stadt mobil und macht als furchterregendes Raubtier buchstäblich Jagd auf kleinere Städte und Siedlungen, um sich diese einzuverleiben.

Metropolis
Krieg der Städte

Gegenwart: Die Stadt als komplexer Organismus

Die Maschinenstadt hatte also einen Haken: Die Menschen lebten nicht gerne in ihr. Eine der einflussreichsten Stadt- und Architekturkritikerin, Jane Jacobs, lehnte die Architektur Le Corbusiers deswegen rundweg ab. Sie kritisierte die grundsätzliche Annahme, dass Architekten das scheinbare „Chaos“ der Städte bändigen müssten. Sie selbst verstand Großstädte als lebendige Systeme, komplexen Organismen ähnlich. Sie forderte eine vielfältige, kleinteilige und gemischte Bebauung, um wieder Leben in die Städte zu bringen.

The Death and Life of Great American Cities

Mit ihren Ideen beeinflusste sie den dänischen Architekten und Stadtplaner Jan Gehl, der – nach vielen Debatten mit seiner Frau, einer Psychologin – den Gedanken des „human scale“ in die Architektur zurückbrachte. Die Idee also, dass der Mensch der Maßstab für eine menschliche Stadt sein sollte. Er verbannte das Auto aus der Innenstadt Kopenhagens, machte aus dem Times Square wieder einen Platz und inspirierte Stadtplaner rund um den Globus dazu, Millionenstädte eher als Ansammlung von Kiezen oder Dörfern zu begreifen, die - wie Einzelorganismen in einem großen Körer - auch für sich allein lebensfähig sein müssen.

EARNER Walkable City

Nahe Zukunft: Die Smart City - ein sich selbst organisierendes System

Dass kleiner meist klüger ist – davon geht auch die nachwachsende Generation der Stadtplaner aus. Der Begriff "Smart City" dominiert den Städtediskurs. Die Stadt wird als intelligentes Computernetzwerk verstanden: dynamisch, offen und selbstorganisierend.

Stadtplaner stellen sich die Smart City als eine Art „Internet der Dinge“ vor: Die komplette städtische Umgebung ist mit Sensoren versehen, die ständig Daten erfassen. Wo sind wie viele Menschen unterwegs und mit welchen Verkehrsmitteln? Wo häufen sich Unfälle, wo fehlt Wohnraum, wo sind Leitungen überlastet?

Basierend auf diesen Daten wird die Stadt an die realen Bedürfnisse ihrer Bewohner angepasst. So gestalten die Bürger die Stadt, in der sie leben, mit. Ohne künstliche Intelligenz können solche enormen Datenmengen gar nicht mehr ausgewertet werden – denn die Städte wachsen und wachsen. Schon heute gibt es 33 Megacities, also Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern.

Der visionäre Science-Fiction-Autor William Gibson nimmt solche Entwicklungen in seinem Roman Neuromancer von 1984 vorweg – neben Begriffen wie "Cyberspace" oder "Matrix", die wir heute ganz selbstverständlich benutzen.

Neuromancer

Zukunftsvision Cyborg City

Und was bringt die Zukunft? Der Autor Karl Olsberg glaubt an hybride Städte oder „Cyborg Citys“, wie sie der Urbanist Matthew Gandy nennt. Olsberg entwickelt in seinem Roman Neopolis eine faszinierende Stadtvision, die halb Utopie, halb Dystopie ist. Bürger und Touristen dieser Stadt tragen permanent Daten-Brillen, die der Realität eine virtuelle Ebene hinzufügen. Beide Ebenen verschmelzen zu einer Hybrid-Stadt – ähnlich wie bei einem Cyborg, dessen menschliche und mechanische Körperteile nicht mehr zu trennen sind.