Zur Pflichtlektüre an deutschen Schulen gehören neben Goethes „Faust“ auch „Corpus Delicti“ von Juli Zeh und „Toni Erdmann“ von Maren Ade. Welche Bücher gehören noch in einen Literaturkanon, der schon junge Menschen dazu auffordert, die Perspektiven anderer einzunehmen?

Das Großartige an Literatur oder überhaupt am Geschichtenerzählen ist ja, dass wir durch sie in andere Lebenswelten eintauchen können. Dadurch wird nicht nur klar wie groß und vielschichtig die Welt ist, sondern auch, wie ähnlich wir Menschen uns sind. Ich denke, es wäre gar nicht schwer, mindestens ein Buch von jedem Kontinent zu finden, das sich bestens zur Pflichtlektüre für Schüler eignen würde.

Corpus delicti

Geschichtsschreibung und Literatur werden von der Perspektive weißer Menschen – vor allem weißer Männer – geprägt. Es ist noch immer für viele Menschen die dominante Perspektive. Aber wir sehen auch gerade, wie schwarze Stimmen immer lauter werden, mehr gehört zu werden scheinen. Dein Buch „Brüder“ zum Beispiel ist vor etwa einem Jahr rausgekommen und stand auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis 2019. Sehen wir da gerade eine Perspektivveränderung?

Das Autorenfeld ist vielfältiger geworden, das stimmt. Auch die Leute, die ausgezeichnet werden und auf den Bestsellerlisten stehen sind diverser als noch vor ein paar Jahrzehnten. Das zeigt, dass unser Blick auf die Welt sich geweitet hat und das ist gut.

Brüder

Welche Bücher haben dein Leben geprägt, deine Perspektive geändert?

Ich könnte jetzt viele tolle Autoren aufzählen, die mich gefesselt und berührt haben, ich beschränke mich mal auf drei:

White Teeth

Die englisch-jamaikanisch-pakistanische Perspektive in London um die Jahrtausendwende plus Zadie Smiths furiose Sprache waren damals für mich eine Offenbarung.

Kurze Interviews mit fiesen Männern

Hier wird tatsächlich die Perspektive gewechselt, und zwar meisterhaft. Den fiesen Männern in die Seele schauen zu dürfen, hat mich nachhaltig beeindruckt, wie übrigens fast alles von diesem Autor.

Ein wenig Leben

Mein Binge-Reading-Exzess der letzten Jahre. So viel Leid und so viel Liebe in nur einem Buch war streckenweise kaum auszuhalten, auch deshalb ein unvergessliches Leseerlebnis.

Wie können Bücher dabei helfen, die eigene Rolle zu reflektieren?

Indem man sich bei der Auswahl so frei wie möglich macht: Nein, die Figur in Deinem Lieblingsbuch muss nichts mit dir zu tun oder gemeinsam haben, um dich zu interessieren. Geschlecht, Herkunft, Beruf, sexuelle Orientierung, Wohnort, sogar das Jahrhundert, in dem sie lebt – all das ist egal, wenn man sich auf eine Geschichte einlässt. Vorausgesetzt die Geschichte ist gut, klar!

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