Marc-Uwe Kling beweist in seiner Känguru-Tetralogie eine feinsinnige Beobachtungsgabe für politische und zwischenmenschliche Absurditäten. Dem Känguru fällt dabei die Rolle zu, alles besonders wörtlich zu nehmen und das so lange auf die Spitze zu treiben, bis die Lachtränen ungehemmt fließen. Kling benutzt dabei im Grunde einen in der Literatur seit Jahrhunderten durchaus bekannten Topos, nämlich den des „Edlen Wilden“, der mit unverfälschten, naiven Augen auf unsere Kultur und unsere sogenannten zivilisatorischen Errungenschaften schaut. Der Figur fällt dabei die Aufgabe zu, die Gesellschaft zu hinterfragen und Missstände aufzuzeigen. Er nimmt eine andere, die Außenperspektive ein und zeigt Dinge auf, die wir nicht mehr bewusst wahrnehmen.

Der „Edle Wilde“ ist dabei eine Erfindung der Kolonialzeitalter mit Beginn der Expansion europäischer Großmächte seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Das geht mit einer Romantisierung der sogenannten „Naturvölker“ einher, die eben zur selben Zeit versklavt, ausgelöscht, unterdrückt und zum Christentum bekehrt wurden. Diese Naturgesellschaften galten dabei als positive Utopie zu einer als dysfunktional empfundenen europäischen Zivilisation, also als Instrument der Zivilisationskritik. Wenn man so will, ist dies die Erfindung einer beginnenden kapitalistisch-hegemonialen Gesellschaft, der auch in früheren Jahrhunderten Schriftsteller schon den Versuch entgegensetzten, Angehörige anderer Völker als Menschen mit gleichwertigen Rechten zu beschreiben. Jean-Jacques Rousseaus Schriften sind hier ein gutes Beispiel, aber auch Romane wie „Robinson Crusoe“ von Daniel Dafoe, „Das Dschungelbuch“ von Rudyard Kipling, die Karl-May-Western und die „Lederstrumpf“-Romane von James Fenimore Cooper.

Das Dschungelbuch

Aus heutiger, postkolonialer Sicht ist die romantische Verklärung und Exotisierung nichteuropäischer, nichtweißer Ethnien genauso rassistisch und von Vorurteilen geprägt wie die Praxis der Versklavung und Unterwerfung. Eine Verklärung und Idealisierung verstellt eben auch den Blick auf die realen Bedürfnisse von Menschen und presst sie in eine Schublade, in der sie selbst nicht sein wollen. Aldous Huxley goss das in den älteren Werken romantisierend verwendete Thema des „Edlen Wilden“ erstmals in eine dystopische Form. Klone, Androiden im Bereich der Science Fiction und – Achtung! – sprechende Tiere haben daher seitdem und mit dem steigenden Erfolg der Animations- und Comicindustrie (ich sage nur: Walt Disney) die Charakterzüge dieser Rollenfigur des „Edlen Wilden“ übernommen.

Oft – sowohl in den älteren Werken als auch in modernen Animationsfilmen mit sprechenden Tieren – steht im Zentrum der Handlung als roter Faden auch ein Reifungs- oder Entwicklungsprozess, daher lassen sich viele dieser Werke auch als Entwicklungsromane (beziehungsweise –filme) beschreiben, was sie als Jugendbücher besonders geeignet macht: die Protagonisten stehen einer schwierigen Aufgabe gegenüber, an der sie reifen und so auch ein Stück weit erwachsen werden.

Ob es eine bewusste oder unbewusste Entscheidung war, sei einmal dahingestellt – manche Schriftsteller haben auch intuitiv geniale Ideen, die sie sehr konsequent durchziehen, ohne gleich Label draufzudrucken (Witzig!). Ganz klar übernimmt das Känguru bei Marc-Uwe Kling die Rolle des „Edlen Wilden“, der der Gesellschaft (und nahezu stündlich auch dem menschlichen Protagonisten Marc-Uwe) den Spiegel vorhält. Das Geniale an Klings Känguru-Charakter ist jedoch, dass Kling das Strickmuster „Edler Wilder“ mit satirischen Mitteln immer wieder unterläuft und so unendliche, sich ineinander verwindende satirische Schleifen dreht, dass diese sich einer Festlegung auf eine bestimmte Geisteshaltung dann doch wieder entziehen.

Schöne neue Welt

Und so ist der eigentliche Anarchist in der Erzählung das Känguru, auch wenn die Label stets mit Känguru = Kommunist und Marc-Uwe = Anarchist benannt werden. Die Geschichte ist eben deswegen so witzig, weil das Känguru gerade kein Kommunist im eigentlichen Sinne ist und auch nicht streng nach sozialistischen Prinzipien lebt. Schließlich haben wir hierzulande keine besonders guten Erfahrungen mit dem Sozialismus gemacht. Es ist anti-hierarchisch, will stets sein eigener Herr (pardon: Känguru) sein und hat einen unabhängigen Geist, der sich jeder Herrschaftsform entzieht, es dominiert alle Gruppen und will am Ende eigentlich am Liebsten immer Recht behalten. Der nach außen behauptete Kommunismus ist also nur eine Verschleierungstaktik dafür, dass das Känguru im Grunde ein größenwahnsinniger Egomane ist – wenngleich ein besonders liebenswerter –, der sich aber genau wie Marc-Uwe tagtäglich mit dem eigenen Idealismus ein Bein stellt und sich in seinem Leben so gemütlich eingerichtet hat, dass es am Ende viel zu faul ist, um tatsächlich die Weltherrschaft zu wollen.

Zu dieser Verschleierungstaktik, also der von ihm eifrig gestrickten Fabel vom „ (Edlen) Wilden Kommunisten“, gehört auch die ständig wiederholte und zusehends ausgeschmückte Behauptung des Kängurus, Mitglied der Vietcong gewesen zu sein. Die waren historisch gesehen zum einen Kommunisten, zum anderen eine gegen die bestehende Regierung gerichtete Guerillavereinigung, die sich als Volksbefreiungsarmee verstand. Und werden in den amerikanischen Filmen, die unser Verständnis von den Vietcong geprägt haben, als besonders brutal, wild und gefährlich inszeniert. Das alles passt einfach sehr gut zu den systemkritischen Auffassungen des Kängurus und es gefällt ihm, sich selbst nach außen als latent gefährlich zu beschreiben. Was es im übrigen auch ist: die Kinnhaken des Kängurus sind spektakulär und führen zu einer immensen Ausfallquote unter Nazis wie auch im hauseigenen Boxclub (K I, DKM: Boxclub) in Marc-Uwes Wohnzimmer. Dass es im Umkehrschluss nicht perfekt ist, weil es z. B. nicht rückwärts hüpfen kann (K I, DKC: Von Pferden und Menschen und Kängurus), ist ein genialer Schachzug des Autors: die latente Gefährlichkeit wird damit gleich wieder ad absurdum geführt und beweist, dass das Beuteltier auch in der Lage ist, über sich selbst zu lachen.

Sind Kängurus niedlich?

In der Filmfassung der Känguru-Chroniken ist das animierte Känguru in etwa so groß wie der Marc-Uwe-Darsteller Dimitrij Schaad. Von Größe wie auch Fellfärbung ähnelt es dem Östlichen Grauen Riesenkänguru, das nur etwa 1,40 m groß wird. Beim Anhören der Tetralogie hatte ich allerdings ganz andere Bilder im Kopf: die vom Roten Riesenkänguru, dessen männliche Exemplare bis zu 1,80 m und 90 kg schwer werden können. Mit aufgepumpten Muskeln möchte man diesen Tieren wahrlich nicht im Dunkeln begegnen, geschweige denn mit ihnen zusammenwohnen, das wäre in etwa so reizvoll wie The incredible Hulk als Untermieter zu haben. „Es ist diese latente Gewaltbereitschaft. Dieses Brutale.“ (K I, DKC: Eine nette Teegesellschaft) des Kängurus, die Marc-Uwe schließlich in die Arme des völlig durchgeknallten Psychiaters treibt. Vor einigen Jahren gingen die nachfolgenden Bilder von Känguru Roger durch die Sozialen Medien, der einen Metalleimer wie einen Pappbecher zerknüllte.

Roger, der leider schon verstorben ist – Kängurus werden nämlich nicht viel älter als 14 – war das Alphamännchen einer Känguru-Kolonie unter der Obhut von Chris „Brolga“ Barnes, genannt „Kangaroo Dundee“ im Kangaroo Sanctuary Alice Springs. Brolga rettet Baby-Kängurus aus den Beuteln ihrer Mütter, die bei Autounfällen getötet wurden, und zieht sie mit der Flasche auf. Unter anderem hat das BBC zusammen mit National Geographic eine mehrteilige Serie über ihn und seine Babys gedreht. Da sieht man Brolga im Kreise seiner Liebsten, ob im Gehege oder heimischen Wohnzimmer: immer hüpfen ein paar halbwüchsige Kängurus um ihn und seine Frau herum. Oder wahlweise: Brolga wird gezeigt, wie er vor seinem Alphamännchen mal wieder Reißaus nehmen muss, weil es ihn als Bedrohung für seinen Harem ansieht. Obwohl er dieses Männchen persönlich mit der Flasche aufgezogen hat. Wenn es um Macht über andere geht, hat die Liebe eben doch ihre Grenzen.

Chris Brolga lebt sozusagen als tägliche Realität, was Marc-Uwe Kling fiktional in Szene setzt. Beim Anschauen der Dokumentationen über Brolga wird deutlich, wie genial Marc-Uwe Kling diesen Tiercharakter entwickelt hat, der all die Eigenschaften aufweist, die sich einem Känguru tatsächlich zuschreiben lassen. Nun ja, leicht, aber wirklich nur GANZ LEICHT überspitzt, natürlich, wir bewegen uns ja im Bereich der Satire. Diese Diskrepanz zwischen Fiktion und Wirklichkeit erzeugt den eigentlich Witz, denn es enstehen zahlreiche absurde Situationen aus genau dieser känguruhaftigkeit des Kängurus, da, wo es eben als „Exot“, als „fremdes“ Subjekt in eine Alltagssituation gerät. Es ist stark, aggressiv, irgendwie schnippisch, chronisch neugierig, extrem anhänglich und wahnsinnig niedlich. Jawohl. „Ich bin nicht niedlich!!“ wendet es an dieser Stelle ein. Ist es aber eben doch, da beißt die Maus, äh, das Wombat, keinen Faden ab. Dieser seltsame Körperbau, dieser zugleich leicht ängstliche und neugierige Gesichtsausdruck, die großen Kulleraugen und die Art, wie sie mit ihrem langen Schnäuzchen schnuppern, dieses merkwürdige Hüpfen als Fortbewegung – alles an Kängurus ist erstaunlich niedlich.

Ich bin ein absoluter Fan dieser Tierart, denn ich habe als Kleinkind in Australien gelebt und zu den Highlights meines jungen Lebens gehörten Besuche im Lone Pine Koala Sanctuary in der Nähe von Brisbane. Da kann man nicht nur „gemäßigt sozialdemokratische Koalabären zum Verlieben“ (K 3, DKM: Früher war alles 2D) auf den Arm nehmen, sondern eben auch: Kängurus streicheln und füttern! Natürlich nicht mit Schnapspralinen oder rohen Fischstäbchen. Und zwar nicht durch einen Zaun hindurch, sondern mitten auf der Wiese, direkt in der Herde. Wie es sich für Kängurus gehört, lungern die wahnsinnig gern in größeren Horden rum, wie alle Kommunisten. Selbstredend werden Kleinkinder wie ich eins war, nur auf die Weibchen losgelassen, die sich friedlich streicheln lassen, statt wie die Männchen im Bedrohungsfall gleich loszuboxen und zu -treten – oder einem Demoplakate über den Kopf zu hauen.

Heutzutage ist das natürlich überhaupt nicht mehr PC – Menschenansammlungen, rumlungernde Känguruhorden, alles potenzielle Ansteckungsherde(n). Abgesehen davon: die Sache mit dem Beutel wirft bei Zuhörenden wie Lesenden seit Jahren doch erhebliche Fragen auf.

Denn: Nur weibliche Kängurus haben einen Beutel. Aber der ist für die humoristisch ausgelsgte Satire so verdammt praktisch, weil das Känguru darin alles von den Boxhandschuhen über Trillionen geklaute Aschenbecher hin zu Marc-Uwes mp3-Player verschwinden lassen kann. Und so macht sich Marc-Uwe, Protagonist wie auch Autor, „seine Welt, widde, widde, wie sie ihm gefällt“. Das Känguru erfährt im Verlauf der eine Art rückwirkender Umdichtung seines Geschlechts. Die rückwirkende Umdeutung von Situationen aus den Anfangskapiteln in späteren Geschichten ist dabei in wiederkehrendes Stilelement, das insbesondere Fragen zur Physiognomie und zum Geschlecht des Kängurus betrifft. „Männlich ... weiblich ... Dit sind doch bürgerliche Kategorien!“ (K III, DKO: Das duale System), ruft Herta, schon ganz känguruisiert, als Marc-Uwe ihm vorhält, „Leute sagen, du hättest ja einen Beutel, würdest dich aber so männlich verhalten.“

Und so hat auch das Känguru wie immer eine schlagfertige Antwort parat: „Nur weil ich einen Beutel habe, soll ich ein rosa Tutu anziehen und Wendy lesen, oder was? Soll ich mir ein Überraschungsei für Mädchen kaufen? Soll ich öfter mal heulen, wenn wir uns streiten? Worauf willst du hinaus?“. Und schon sind alle Zweifelnden ihrer Argumente beraubt, das Känguru ist nichtbinär, warum auch nicht. Das Geschlecht des Kängurus ist nicht wichtig, Hauptsache das Tier ist witzig in seinen Eigenschaften. Bestimmte Konturen beider Figuren kristallisieren sich also erst über die ständige Feedbackschleife mit dem Publikum in der Live-Interaktion auf Lesebühnen heraus.

Die Känguru-Apokryphen

Komischer (Anti-)Superheld

Das Känguru wird dabei mehr und mehr, ganz genau wie die sprechenden Tiere in Animationsfilmen und Comics, zum komischen (Anti-)Superhelden: es ist übermenschlich stark und stets auf höchst unschuldige Weise gewaltbereit, setzt diese Kraft aber immer nur zu edlen Zwecken ein, etwa um Nazis zu verprügeln, den Überwachungsstaat auszuhebeln oder um Marc-Uwe zu retten.

Mit den „Känguru-Apokryphen“ verleiht Marc-Uwe Kling dem Känguru am Ende der Tetralogie gar göttlichen Status – und macht sich selbst damit zu seinem Propheten. Apokryphen sind nach landläufiger Auffassung religiöse Texte, die nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden. Kling schreibt (spricht) im „Vorgespräch“ (K IV: DKA): „Jedenfalls habe ich es nicht mal geschafft, die Geschichten sicher den Büchern zuzuordnen. Ich weiß nicht mehr, welche zeitlich zu den Chroniken gehören, welche zum Manifest, welche zur Offenbarung und welche danach spielen.“ Darin mag mehr als nur ein Funken Wahrheit mitschwingen: viele der Texte sind ja als reine Lesebühnentexte entstanden, ohne dass eine Publikation ursprünglich beabsichtigt war.

Und da sich Marc-Uwe in allen vier Teilen stets dezidiert nur als Chronist versteht, also gewissermaßen historischer Biograf oder irdisches Sprachrohr des gottgleichen Wesens Känguru, ist er mithin der Prophet. Autor Kling bekennt sich damit zu seinem Status als Bestsellerautor, dessen Wort sich seit Jahren unaufhaltsam in Gold verwandelt und nimmt sich gleichzeitig selbst auf die Schippe, denn das Känguru und Marc-Uwe halten ja bekanntlich nicht besonders viel von Religion, so dass das insgesamt eigentlich alles nur ironisch zu verstehen ist.

„Es war einmal ein Punkt, an dem die Materie- und Energiedichte unendlich war. Eine Singularität, in der die allgemeine Relativitätstheorie nicht galt. Dann hat es geknallt. Etwa 13,8 Milliarden Jahre später ist ein kommunistisches Känguru in mein Wohnzimmer eingezogen. Seitdem knallt es die ganze Zeit. Der Rest ist selbsterklärend.“ (K IV, DKA: Was bisher geschah)

Letztlich ist es gar nicht das Känguru, das im Sinne des Bildungs- und Entwicklungsromans, der häufig mit der Idee vom „Edlen Wilden“ einhergeht, einen Reifungsprozess im Verlauf der Tetralogie durchläuft: Den Reifungsprozess erfährt Marc-Uwe, sowohl der fiktive wie auch der reale, der in späteren Bänden immer wieder neu in die menschliche Hauptfigur einfließt: ohne das Känguru hätte dieser Marc-Uwe womöglich ein ziemlich eintöniges und durchaus depressives Leben geführt. Mit Känguru: immer was los. Zugleich stellt sich der Erfolg als Schriftsteller ein, weg vom Kleinkünstler hin zum seriösen Verkaufsmagneten.

Glücklicherweise blieb Lone Pine in Brisbane, wie übrigens auch das Sanctuary von Brolga in Alice Springs, von den Buschfeuern Ende 2019 verschont. Wer den kommunistischen Kängurus und sozialdemokratischen Koalas, die das Glück nicht hatten, helfen will, findet hier einige seriöse Organisationen, die sich über Spenden freuen: