Japanische Lebensart

Feierabend kann man erst dann machen, wenn auch der Chef seine Sachen packt. Auf offener Straße sollte man es mit den Zuneigungsbekundungen zum Partner nicht übertreiben. Essstäbchen darf man nicht senkrecht in eine Schale mit Reis stecken.

Die ungeschriebene Liste der Dinge, die man in Japan lieber unterlassen sollte, ist recht lang, bestätigt Urs Matthias Zachmann, Professor für Japanologie an der Freien Universität Berlin. Denn, so der Wissenschaftler, der „Japanese Dream“ ist folgender: Wenn ich alle Regeln befolge und mich ordnungsgemäß durchs Leben bewege, dann ist mir der Erfolg quasi garantiert. Umgekehrt gilt: „Wenn man sich nicht an die Regeln hält, gerät man schnell ins Abseits.“

Japan-Knigge: Achtung, Fettnäpfchen

Mit Selbsthilfeliteratur ans Ziel

Entsprechend groß ist die Auswahl an (Hör-)Büchern und Regelwerken, die detailliert erklären, was man tun und lassen sollte, um glücklicher, erfolgreicher, schöner und liebenswerter zu werden. „In Japan ist Selbsthilfeliteratur ein ausgeprägtes Genre mit einer sehr langen Tradition“, so Professor Zachmann.

Da gibt es neben Marie Kondos Aufräumbibel, die in ihrem Heimatland ebenso erfolgreich war wie im Rest der Welt, Ratgeber darüber, wie man in kürzester Zeit flexibler (und damit gesünder) werden kann, oder wie man seine Zeit auch im hohen Alter produktiv nutzt.

Ein weiterer Titel, der in den vergangenen Jahren die japanischen Bestsellerlisten erobert hat: „Du musst nicht von allen gemocht werden – vom Mut, sich nicht zu verbiegen“ von Ichiro Kishimi und Fumitake Koga.

Du musst nicht von allen gemocht werden

Japanische Lebensweise: Auf der Suche nach dem eigenen Weg

In Japan verkaufte sich das Werk über zwei Millionen Mal, bevor es 2018 unter anderem auch auf Deutsch und Englisch erschien. Dabei ist es gar keine Selbsthilfeliteratur im klassischen Sinne mit To-do-Listen und stichpunktartigen Anweisungen, welche Verhaltensweisen einem zum Erfolg verhelfen.

Stattdessen unterhält sich ein junger Mann, der nicht nur unglücklich, sondern auch noch unsicher und ziellos durchs Leben geht, mit einem wesentlich älteren und wesentlich weiseren Mann. Der Ältere erklärt dem Jüngeren die Grundlagen der Individualpsychologie nach Alfred Adler. Diese basiert auf der Annahme, dass vergangene Traumata und Erlebnisse nicht die Gegenwart eines Menschen bestimmen, jeder einzelne sein Glück demnach selbst in der Hand hat.

Kishimi und Koga haben also Selbsthilfeliteratur verfasst, die dabei helfen soll, sich von einengenden Verhaltensmustern zu befreien. Möglicherweise liegt genau darin der Grund, warum „Du musst nicht von allen gemocht werden“ in Japan so erfolgreich ist. In einem Land, in dem es nämlich eigentlich sehr wohl darum geht, möglichst nicht anzuecken. Wo der Druck, sozialen Normen zu entsprechen und sich an eine Vielzahl meist ungeschriebener Regeln zu halten, besonders hoch ist.

Wer Japan verstehen will, muss hören

Japan

Japanische Regeln mit Sinn

Immerhin hat dieses Konstrukt an Regeln und sozialen Normen durchaus auch Vorteile: Zum Beispiel gibt es Sicherheit, weil man immer weiß, wie man sich zu verhalten hat. Die unangenehme Situation, dass man bei der Begrüßung selbst die Hand ausstreckt, während das Gegenüber sich auf eine Umarmung vorbereitet – in Japan kein Problem, denn hier ist klar: eine leichte Verbeugung reicht.

Die Vielzahl von Verhaltensregeln hat außerdem einen interessanten Nebeneffekt: „Weil jeder weiß, wie er sich im öffentlichen Raum zu verhalten hat, wird im Privaten mehr Freiraum geschaffen, sich zu öffnen“, so Urs Matthias Zachmann. „Weil jeder die Grenzen kennt und weiß, was die Normen sind, vertraut man einander von vornherein mehr.“

Plädoyer für mehr Selbstvertrauen

Ums Vertrauen geht es auch in der Fortsetzung des japanischen Selbsthilfebestsellers – allerdings vor allem um Vertrauen zu sich selbst. In „Du bist genug: Vom Mut, glücklich zu sein“ trifft der junge Mann abermals auf den alten Philosophen. Dieses Mal geht es um die Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse, die Frage nach der großen Liebe und die Angst vorm Scheitern.

Ob man scheitert oder reüssiert ist für all diejenigen, die dem „Japanese Dream“ hinterherjagen, übrigens zweitrangig. Professor Zachmann dazu: „Es kommt darauf an, dass man sich mit vollem Einsatz anstrengt. Selbst wenn man dann scheitert, hat man immerhin sein Bestes gegeben.“ Man ist dann zwar ein tragischer Held, aber immerhin ein Held. Und darauf kommt es doch letztlich an: Darauf, der Held seiner eigenen Geschichte zu sein.

Gut genug: Von der Selbstoptimierung zur Selbstakzeptanz