Im Dezember wird es bunt, magisch und märchenhaft auf den Kinoleinwänden. Wicked – Die Hexen von Oz, der zweiteilige Fantasy-Streifen mit Cynthia Erivo und Ariana Grande in den Hauptrollen, schickt sich an, in leuchtendbunten Bildern und mit mitreißenden Songs und einer herzerwärmenden Geschichte die Herzen des Publikums zu erobern.
Die Verfilmung steht auf großen Schultern. Sie basiert auf einem der erfolgreichsten Broadway-Musicals aller Zeiten, welches wiederum eine Adaption des gleichnamigen Fantasy-Romans von Gregory Maguire ist. Und dieser selbst basiert auf L. Frank Baums Der Zauberer von Oz – ein phantastischer Kinderbuchklassiker, der oft in einem Atemzug wie Alice im Wunderland und Peter Pan genannt wird.
Für die Amerikaner wurde der im Jahr 1900 erschienene Roman zum Kulturgut wie für uns die Märchen der Brüder Grimm. Und wie diese Märchen wird auch Der Zauberer von Oz immer wieder adaptiert – ob als Comic, Familienfilm, Hörspiel oder TV-Serie.
Selbst die, die das Buch nicht gelesen haben, kennen entweder das Filmmusical mit Judy Garland aus dem Jahr 1939, eine der beiden Disney-Kinoverfilmungen oder eben Wicked – Die Hexen von Oz.
Darum geht es in Der Zauberer von Oz:
Ein Wirbelsturm befördert das Waisenmädchen Dorothy Gale (samt Hund Toto) aus Kansas in das magische Land Oz, wo sie mit einem Farmhaus aus der bösen Hexe des Ostens landet und diese so versehentlich tötet. Um zurück nach Kansas zu kommen, müssen Dorothy und Toto auf der gelben Ziegelstraße entlang in die Smaragdstadt reisen, um dort dem Zauberer von Oz um Hilfe zu bitten.
Das Problem: Dorothy hat sich die Zauberschuhe der toten Hexe geschnappt und die Gute Hexe des Nordens hat ihr eingeschärft, diese auf keinen Fall herzugeben. Die Böse Hexe des Westens will sich diese Schuhe aber auch unter den Nagel reißen.
Unterstützung erhält Dorothy auf ihrer langen Reise durch Oz von drei ganz besonderen Gefährten: einem Blechmann, der sich vom Zauberer ein Herz wünschen will, einem ängstlichen Löwen, der von Mut träumt und eine Vogelscheuche auf der Suche nach einem Gehirn.
Wicked erzählt die bekannte Geschichte völlig anders
Für seinen Roman Wicked – Die Hexen von Oz, der ganz frisch erstmals auf Deutsch als Hörbuch erschienen ist, hat sich Gregory Maguire dazu entschieden, der zentralen Antagonistin von Baums Klassiker einen neuen, menschlicheren Hintergrund zu verleihen.
Im Hörbuch geht es um den Menschen, der hinlänglich als die eindrucksvolle, aber eindimensionale “Böse Hexe des Westens” bekannt wurde. Der Autor schenkt ihr den Namen Elphaba und erschafft ihr eine eigene Lebens- und Leidensgeschichte – und auf einmal erstrahlen die Ereignisse aus dem Original in ganz anderem Licht.
Als Elphaba als erstes Kind eines bigotten Pastors und seiner Frau geboren wird, ist der Schock groß: Das Baby kommt mit einer grünen Haut zur Welt. So etwas hat man selbst im magischen Oz noch nicht erlebt. Überhaupt ist Elphaba sehr seltsam und entwickelt erst ihre soziale Seite, als ihre Schwester Nessarose mit einer Behinderung geboren wird. Eine herzliche, gesellige junge Frau wird aus dem Mädchen dennoch nicht.
Auch auf dem College ist Elphaba zunächst eine Eigenbrötlerin. Interessanterweise ist es die Tatsache, dass sie dazu gezwungen wird, mit der ebenso schönen wie flatterhaften Galinda ein Zimmer zu teilen, die sie schließlich etwas offener werden lässt. Die beiden ungleichen Studentinnen freunden sich trotz aller augenscheinlichen Gegensätze miteinander an und werden bald zum Mittelpunkt einer Gruppe junger Leute, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Widerstand gegen die politische Richtung zu leisten, die der Zauberer von Oz eingeschlagen hat: Denk- und sprachbegabte Tiere, die in Oz von jeher Ansehen genossen haben, werden mehr und mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Der Unterschied zwischen Filmmusical und Hörbuch
Die Freundschaft zwischen Galinda und Elphaba wird in der Musical-Variante und im neuen Kino-Zweiteiler zum Dreh- und Angelpunkt. Die Vorgeschichte Elphabas erfahren wir im Musical nur in einem Song. Stattdessen geht es im ersten Akt, auf dem der erste Kinofilm basiert, um die Collegezeit, die die beiden erst zu Zimmergefährtinnen macht, dann zu Feindinnen und schließlich zu Freundinnen.
Das Hörbuch lohnt sich deshalb nicht nur für jene, die unbedingt wissen wollen, wie die Geschichte von Elphaba weitergeht, sondern auch für die, die erfahren wollen, wie sie eigentlich begann. Maguires Buch ist wesentlich politischer als die Adaptionen: Das zentrale Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Handlung zieht, ist “wer wird von wem beherrscht” – und warum. Dies, das Recht auf die eigene Selbstbestimmung sowie die Frage danach, ob ein Zweck immer die Mittel heiligt, sind die Punkte, mit denen sowohl Elphaba als auch das Publikum immer wieder konfrontiert werden.
Maguieres erzählt trotz dieser ernsten Thematik flüssig und kurzweilig. Das liegt mit Sicherheit auch daran, dass er die Moral der Geschichte nicht mit der Bratpfanne in seine Leser einprügeln will, sondern in den Vordergrund das Schicksal von Elphaba stellt. Dadurch gelingt es ihm, eine sowohl interessante als auch gehaltvolle Geschichte zu erzählen, die zum Nachdenken anregt. Und die in der aktuellen politischen Weltlage wieder einmal erschreckend aktuell ist.
Wer sich außerdem schon immer gefragt hat, was es mit den rubinroten Schuhen auf sich hat, warum die böse Hexe des Westens geflügelte Affen befehligt, wie Glinda zu ihrem Namen kam und weshalb die gelbe Ziegelstraße wirklich gebaut wurde, der findet in Wicked – Die Hexen von Oz einleuchtende Antworten.
Eintauchen in den Oz-Kosmos
Wer andererseits nach (oder vor) dem Film intensiver in den Oz-Kosmos abtauchen möchte, dem bieten sich zahlreiche Möglichkeiten:
Es gibt eine ganze Reihe wirklich wunderbarer Hörspiel- und Hörbuchadaptionen des Originalstoffes:
Neben Maguires Roman gibt es in englischer Sprache noch weitere Adaptionen. Und – das wissen vielleicht die wenigsten - auch Baum selbst hat mehr als einen Oz-Roman geschrieben. Seiner Feder entstammen darüber hinaus noch dreizehn weitere Oz-Romane. In vielen davon spielt Dorothy eine Rolle, in einigen nicht. Als Walt Disney in den 80er Jahren mit Oz – Eine phantastische Welt eine Art inoffizielle Fortsetzung des Technicolor-Musicals mit Judy Garland machte, stützten sich die Drehbuchautoren vor allem auf den zweiten und dritten Oz-Roman: Das wundersame Land von Oz und Ozma von Oz.
Nicht nur ein Wirbelsturm kann dich nach Oz bringen
Im Verlauf der Oz-Romane landen Menschen aus unserer Realität auf ganz unterschiedliche Weisen in Oz: Mal wird Dorothy während einer Schiffsreise von Bord gespült, mal von einem Erdbeben begraben. Der "Zauberer" von Oz selbst ist mit seinem Heißluftballon dort gelandet. Im sechsten Oz-Roman, Die Smaragdstadt von Oz, zieht Dorothy mit ihrer Tante Em und ihrem Onkel Henry endlich nach Oz, so dass so traumatische Reiseerlebnisse nicht mehr notwendig sind.
Viele Oz-Romane spielen übrigens ganz in Oz, in einigen davon kommen gar keine Menschen vor.
Im Original gibt es gar keine rubinroten Schuhe
Die weltberühmten rubinroten Schuhe, das Markenzeichen von Oz, sind in L. Frank Baums Buch gar nicht rubinrot – sondern silbern. In die Popkultur gingen sie als rot ein, weil die Judy Garland-Verfilmung ihnen diese Farbe verpasste. Der Grund: Der Zauberer von Oz war einer der ersten Farbfilme überhaupt – und die Produktionsfirma MGM fand, dass sich rubinrote Schuhe auf der Kinoleinwand deutlich besser machen als silberne.
Vermutlich aus dem gleichen Grund verpasste MGM der Bösen Hexe des Westens ihre ikonische grüne Hautfarbe. In der Romanvorlage kommt die eigentlich ebenfalls nicht vor.
Dort trägt die Böse Hexe des Westens auch nicht schwarz. Denn im Buch selbst erfährt Dorothy, dass "Hexen und Zauberinnen weiß tragen" und dass "weiß die Farbe der Hexen" ist. Deshalb wird auch Dorothy selbst – sie trägt blau und weiß – eine Hexe ist.
Wie tief verwurzelt die Vorstellung der grünhäutigen Hexe in ihren schwarzen Klamotten und dem spitzen Hut ist, lässt sich daran ablesen, dass diese Elemente tatsächlich sehr relevant für den Plot der Adaption Wicked – Die Hexen von Oz ist.
Um in die Smaragdstadt zu kommen, müssen Dorothy und ihr Hund Toto einfach nur der gelben Ziegelsteinstraße folgen. In Das Patchwork-Mädchen von Oz, Baums siebten Oz-Roman, offenbart der Autor, dass es nicht nur eine, sondern zwei gelbe Ziegelsteinstraßen gibt.
Ebenfalls Kult: Der Zauberer der Smaragdenstadt
L. Frank Baum starb 1919, ein Jahr vor der Veröffentlichung seines letzten Buches: Glinda von Oz.
Danach sind jedoch weitere Bücher erschienen, die offiziell zur Oz-Reihe gehören: Ganze sechsundzwanzig Romane, veröffentlicht von Baums Verleger und geschrieben von sechs verschiedenen Autorinnen und Autoren. Und dann sind dann natürlich noch all die Romanadaptionen. Neben Wicked – Die Hexen von Oz ist hierzulande vermutlich am bekanntesten das russische Buch Der Zauberer der Smaragdenstadt, welches es in der ehemaligen DDR zu großer Beliebtheit gebracht hat.
Das Spannende daran: Der Zauberer der Smaragdenstadt begann eigentlich als Übersetzung von Baums erstem Oz-Roman. Viele Details waren Übersetzer Alexander Wolkow aber offensichtlich zu amerikanisch – die änderte er dann einfach mal ab, passte Baums Vorlage an die Werte der Sowjetunion an. Und bei nachfolgenden Romanen erlaubte er sich meines Wissens sogar noch größere Freiheiten und entwickelte völlig eigene Geschichten. Die ersten X Romane sind wunderbar eingelesen von der großartigen Katharina Thalbach.
Von den Freiheiten, die sich die unterschiedlichen Autorinnen und Autoren bei ihren Adaptionen genommen haben, mag man halten, was man will. Eines machen sie deutlich: Mit Oz hat L. Frank Baum ein zauberhaftes Land geschaffen, das aus unserer Popkultur nicht mehr wegzudenken ist.