Wenn sie die Augen schloss, öffnete sich das Schleusentor. Seit frühster Kindheit – so schilderte es dem Psychologie-Professor McKellar in einem Brief – überfiel sie in jeder ruhigen Minute ihre Fantasie. Personen, Orte, Handlungsstränge zogen wie ein Film vor ihrem inneren Auge vorbei, fertig ausformuliert mit allen Details. Alles, was sie noch zu tun hatte, war, ihre Olympia-Schreibmaschine auf die Knie zu ziehen und zu tippen wie eine Besessene. In ihren produktivsten Zeiten schrieb sie 10.000 bis 12.000 Wörter am Tag.
Mir erscheint es selbst wie ein Wunder, dass mir die Geschichten fertig vorgeführt werden.
Enid Blyton
Als Kind nannte sie diese Geschichten night stories. Sie erzählte sie ihren jüngeren Brüdern vor dem Schlafengehen. Wohl auch, um diese von den streitenden Eltern abzulenken. Enid Mary Blyton, die am 11. August 1897 im Londoner Stadtteil Borough of Southwark zur Welt kam, wusste sehr früh im Leben, was sie wollte: Schriftstellerin werden. Was beide Eltern ablehnten. Ihre Mutter tat ihre ersten schriftstellerischen Versuche als „Gekritzel“ und „Zeitverschwendung“ ab. Ihr Vater hätte die musikalisch hochbegabte Tochter lieber als Pianistin gesehen.
Dieser Vater war der Fixstern ihrer Kindheit. Sie teilte seine Leidenschaft für Literatur, Tiere, Pflanzen und Musik. Doch als Enid Blyton dreizehn Jahre alt war, endeten die beglückenden Streifzüge durch die Natur mit ihm abrupt: Thomas Blyton verließ die Familie für eine andere Frau. Später analysierte der Psychologe Michael Woods, an dieser Stelle sei Enid Blytons psychologische Entwicklung zum Stillstand gekommen. "Sie war ein Kind, sie dachte wie ein Kind und schrieb wie ein Kind", behauptete er.
Genauer gesagt: wie ein Junge. Erst spät in ihrem Leben gab Enid Blyton zu, dass sie in Georgina von den „“ sich selbst porträtiert habe. Dieses eigensinnige, draufgängerische, launische und oft einsame Mädchen ist sicher die facettenreichste Figur im Blytonschen Kinder-Kosmos. „George“ streunt in Hosen herum, legt Verbrechern das Handwerk, liebt ihren Hund und führt gemeinsam mit ihrem Cousin Julian die legendäre Kinderbande an. Bilder aus Blytons Jugend zeigen ein Mädchen mit kurzen, dunklen Locken. Die Ähnlichkeit mit Darstellungen von „George“ ist nicht zu übersehen. Enid Blyton – ein weiblicher Peter Pan?
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Pubertät? Krieg? Konflikte? Kein Thema bei Enid Blyton
Fest steht jedenfalls: Ihre literarischen Figuren überschritten nie die Schwelle zur Pubertät. Ob Hanni und Nanni, die Fünf Freunde oder die Helden der „Geheimnis um…“-Serie: In Enid Blytons Universum tollen gewitzte Zehn- bis Zwölfjährige durch nie enden wollende Sommertage, erleben Abenteuer und jagen Ganoven. Die Suche nach der eigenen Identität, erste Liebe oder familiäre Konflikte? Kein Thema in Blytons Romanen. Alles Widersprüchliche und Unangenehme blendete Enid Blyton vollständig aus – in ihren Büchern wie in ihrem Leben.