Eigentlich wollte Heikedine Körting Journalistin werden. Weil sie gerne schrieb, als Kind schon. Niemand Geringeres als Marion Gräfin Dönhoff, Herausgeberin der „Zeit“ und Schulfreundin ihres Vaters, redete ihr diesen Plan aus: Sie riet ihr in einem Brief, einen „richtigen“ Beruf zu lernen und nebenher zu schreiben. Körting, geboren am 18. Juni 1945 bei Jena, nahm also ein Jura-Studium auf und suchte sich einen Nebenjob. Tatsächlich sollte dies der Beginn einer beispiellosen Karriere werden – aber ganz anders, als Körting sich das vorgestellt hatte.

Wer glaubt, Heikedine Körting, heute Multi-Millionärin, wäre von Jugend an vermögend gewesen, irrt. Sie hatte den Nebenjob bitter nötig. Die Familie hatte im Krieg und auf der anschließenden Flucht alles verloren. Heikedine Körting klebte Plakate, fuhr Zeitungen aus und arbeitete im Fernsehen als Claqueur – also als jemand, der gegen Geld applaudiert. „Wenn man weiß, wie scheiße es ist, kein Geld zu haben, wird die Unabhängigkeit davon umso wichtiger“, hat sie einmal ganz unverblümt in einem Interview mit der taz gesagt.

Europa - die Anfänge des Hörspiel-Labels

In den Semesterferien 1969 hatte die Jura-Studentin also einen Nebenjob: Sie schrieb Hörspielmanuskripte für den Musikwissenschaftler und Sprecher Andreas Beurmann, den sie sechs Jahre zuvor kennengelernt hatte. 1961 hatte Beurmann zusammen mit dem amerikanischen Unternehmer David Leonard Miller ein eigenes Label gegründet, mit dem er Kinderhörspiele produzieren wollte. Sie nannten es „Europa“.

Die kleine Seejungfrau

Wenig später hatte Heikedine Körting ihr zweites Staatsexamen. Sie arbeitete als eine der jüngsten Rechtsanwältinnen Deutschlands am Jugendgericht, bei der Baubehörde und im Notariat. Sie verdiente gut. Doch die Sache mit den Hörspielen hatte sie gepackt. Neugierig und umtriebig wie sie war, fing sie an, bei der Produktion mitzumischen – zum ersten Mal beim Märchenhörspiel „Die kleine Seejungfrau“ nach Hans Christian Andersen. Sie blieb dem Hörspiel treu – und verliebte sich in Beurmann, dessen Ehefrau 1968 überraschend verstorben war.

Andreas Beurmann sah, wie gut Heikedine Körting ihren Job macht und übertrug ihr 1973 die Verantwortung für die Umsetzung sämtlicher Hörspielskripte. Heute, glatte fünfzig Jahre später, hat sie die noch immer inne. Wobei sie sich die Arbeit mit André Minninger teilt, der selbst schon bei Europa ist, seit er dort als Teenager zu Beginn der 80er-Jahre kleinere Aufgaben und Sprecherrollen übernahm.

Fünf Freunde beim Wanderzirkus

1979, in dem Jahr, in dem Andreas Beurmann und Heikedine Körting heirateten, leitete eine technische Erfindung den großen Siegeszug des Hörspiels ein: Am 1. Juli 1979 brachte Sony den Walkman auf den Markt, der unter Kindern und Jugendlichen schnell zum Statussymbol avancierte. Heikedine Körting und Andreas Beurmann krempelten die Ärmel hoch: Mit einem kleinen Team produzierten sie ein Hörspiel nach dem anderen. Ob „Fünf Freunde“, „TKKG“ „Hanni und Nanni“ oder „Die drei ???“ – die Generation Kassettenkind ging nirgends ohne ihr Hörspielköfferchen hin.

So kamen mit der Zeit mehr als 3.000 Hörspiele zusammen, die in Summe weit über 500 Millionen Mal verkauft wurden. Dieser Rekord brachte dem Label so viele Gold- und Platin-Schallplatten ein, dass man sie kaum mehr zählen kann. Mehr als 180 goldene sowie mehrere aus Platin sollen es sein. Sie hängen dicht an dicht in den Fluren der eleganten Hamburger Jugendstil-Villa, in der Körtings Studio bis heute residiert. (Das Label Europa gehört mittlerweile zu Sony und sitzt offiziell in München.)

Die drei ??? und der Super-Papagei

Der größte Erfolg des Labels sollte die Hörspielreihe „Die drei ???“ werden. Im Oktober 1979 erschien in Deutschland die erste Folge der ursprünglich in den USA erdachten Jugendreihe: „Der Super-Papagei“. Die Sprecher der jugendlichen Detektive sind damals – passend zu ihren Rollen – im Teenager-Alter. Heute gehen Oliver Rohrbeck, Andreas Fröhlich, Jens Wawrczeck auf die 60 zu. Heikedine Körting nennt sie bis heute „meine drei Jungs“.

Kommen sie ins Studio, gibt es eine Runde Schnitzel und dann sitzt jeder auf seinem festen Platz – vor Regalen voller alter Telefone, Hupen, Flaschen, Weckern und Tastaturen. Denn auch, wenn die Grundgeräusche mittlerweile digital hinzugefügt werden, werden die Begleitgeräusche für jede Folge nach wie vor analog produziert.

Ebenso wie die Endfassung, die bis auf große Tonbandrollen aufgezeichnet wird – die Studiochefin schwört auf die alte Technik. Und weil sie überall gerne mitmischt, ist Heikedine Körting auch selbst in vielen Folgen zu hören: Bei „Hanni und Nanni“ als „Mrs. Sullivan“; bei den „Drei ???“ als Papagei „Blacky“. Auch der gruselige Schrei des „seltsamen Weckers“ in Folge zwölf stammt von der Chefin persönlich.

Die 80er sind gute Jahre für Heikedine Körting: 1985 wird sie ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen, als „Deutschlands erfolgreichste Märchentante“. Im Juli 1986 wird ihr zu Ehren eine spezielle Rose gezüchtet, die – klar – den Namen „Märchenkönigin“ trägt. Doch die Kassettenkinder werden größer. Fernsehserien wie „Alf“ sind plötzlich interessanter und in den Kinderzimmern tauchen die ersten Spielkonsolen und Computer auf. Bei Europa brechen die Umsätze ein. Anfang der 90er werden nur noch „Die drei ???“ und einige „TKKG“-Hörspiele produziert.

Heikedine Körting und Andreas Beurmann machen weiter, widmen sich aber auch einer neuen Leidenschaft: Sie lassen sie die historische Gutsanlage Hasselburg restaurieren, eine aus dem 14. Jahrhundert stammende Wasserburg. Hier kann man heute Urlaub machen, Konzerten lauschen, das einzige Hörspielmuseum Deutschlands besuchen und mit etwas Glück auf die umtriebige Hausherrin treffen.

Das Comeback der Generation Kassettenkind

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein. Doch die Generation Kassettenkind wird erwachsen – und ein beispielloses Phänomen nimmt seinen Anfang: Plötzlich steigen die Verkaufszahlen bei Europa wieder. Die Mitglieder der Band „Fettes Brot“ bekennen sich öffentlichkeitswirksam dazu, „Drei ???“-Fans zu sein.

Master Of Chess [Live & Unplugged]

Europa legt die alten Hörspiel-Klassiker wieder auf. Immer mehr Fans wünschen sich, live bei einer Hörspielproduktion zusehen zu dürfen. 2002 findet die erste Live-Tournee der „Drei ???“ statt: „Master of Chess – Live & Unplugged“. Der Geräuschemacher Peter Klinkenberg erzeugt die Geräusche live auf der Bühne – und tausende Menschen lauschen fasziniert. Heute füllen „Die drei ???“ bei ihren Live-Aufritten riesige Arenen.

Während die Serie ursprünglich für 8- bis 14-Jährige gedacht war, ist die Hörerschaft gemeinsam mit den Sprechern gealtert. Heute ist die Hälfte der Hörenden zwischen 20 und 40 Jahre alt. „Die Drei ???“-Hörspiele versetzten sie für eine knappe Stunde in eine Zeit zurück, die in der nostalgisch gefärbten Rückschau behütet und sorglos erscheint.

‚Die drei ???‘ spielen in ihrem eigenen zeitlosen Kosmos. […] Unsere Stimmen holen die Menschen raus aus ihrem Stress-Alltag. 

(Oliver Rohrbeck, „Wirtschaftswoche“ vom 5. Dezember 2013)

Ein Bundesverdienstkreuz für die Hörspielkönigin

Die Ohren aufsperren und einer guten Geschichte lauschen – das machen Menschen seit jeher und in allen Kulturen. Dass diese Geschichte vom Band oder – wie heute – aus dem Smartphone oder Laptop kommt, ist aber nur im deutschsprachigen Raum so gängig. Die Hörspielkultur hierzulande kann einem wie eine Selbstverständlichkeit vorkommen; doch das ist sie nicht. Nirgends anders ist das Anhören vertonter Bücher und eigens verfasster Hörspiele so beliebt. Thomas Mann als Hörbuch? Ließ sich in Deutschland erst gut verkaufen, als die Kassettenkinder großgeworden waren.

Heikedine Körting ist mittlerweile 77 Jahre alt. Ihr Mann ist 2016 verstorben. Doch an Rente denkt die quirlige Hörspielproduzentin noch lange nicht. Warum aufhören, wenn ihr der „Nebenjob“ nach wie vor so viel Spaß macht? Sie liebt die Zusammenarbeit mit den hochkarätigen Sprechern und Schauspielern und mit ihrem Team, das wie eine Familie für sie ist.

Für ihre einmaligen Verdienste für die Hörspielkultur hat ihr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im September 2022 sogar das Bundesverdienstkreuz verliehen. „Ich bin energiegeladen genug, dass ich das vielleicht auch noch 20 Jahre lang machen kann“, sagt Körting, wenn man sie nach ihren Plänen fragt. Man glaubt es ihr.

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Foto: Die Hörspielproduzentin Heikedine Körting - © Markus Scholz/dpa