Dass Worte heilende Kräfte besitzen, ist keine neue Idee. Schon vor Jahrhunderten glaubten Menschen an die Macht von heilenden Zaubersprüchen oder Beschwörungsformeln. Apoll, der antike Gott der Dichtung, war gleichzeitig Gott der Heilkunst. Aristoteles verwendete den Begriff der “Katharsis” für die reinigende Wirkkraft der der Poesie. Und schon vor der Erfindung des Buchdrucks wussten Geistliche und Ärzte die positiven Auswirkungen des Lesens auf das Wohlergehen ihrer Schützlinge und Patienten zu schätzen. Religiöse Texte und kleine Bibliotheken zur Besserung und Erbauung fanden sich in Asylen, Gefängnissen und Hospitälern.

Lesen als Heilmittel: Was genau ist die Bibliotherapie?

Erstmals als Heilmethode empfahl der amerikanische Arzt, Politiker und Humanist Benjamin Rush das Lesen im 18. Jahrhundert. Der Begriff der “Bibliotherapie” tauchte 1916 bei Samuel McChord Crothers auf, einem amerikanischen Geistlichen, der dazu riet, “zur Linderung von Beschwerden die Lektüre fiktiver und nicht-fiktiver Werke mit einem Therapeuten zu besprechen.” Hier kommt die Begleitung und Reflektion des gelesenen Stoffes mit einem Experten als zusätzliches wichtiges Merkmal ins Spiel.

Ins medizinische Wörterbuch, den Pschyrembel, schaffte es die Bibliotherapie 1941 mit dieser Definition: “Form der Psycho- und Kunsttherapie, bei welcher der Patient durch Lektüre geeigneter Literatur oder die Produktion von Texten darin unterstützt werden soll, die eigene emotionale Ausdrucksfähigkeit zu fördern und verbessern. Ziel ist die Unterstützung von Heilungs-, Bewältigungs- sowie Entwicklungsprozessen. Die Wirksamkeit ist belegt.”

Eins sollte klar sein: Die heilende Wirkung der Bibliotherapie bezieht sich vor allem auf die Psyche. Knochenbrüche, Krebs oder Viruserkrankungen lassen sich mit Büchern (leider) nicht heilen. Die Bibliotherapie kann unterstützend bei der Bewältigung körperlicher Erkrankungen hinzugezogen werden, aber die Wirkung findet vor allem hier statt: im Kopf.

"Außer Nahrung, Zuflucht und Kameradschaft sind Geschichten das, was die Welt am meisten braucht."

Welche Formen der Bibliotherapie gibt es?

Man unterscheidet grundsätzlich zwischen verschiedenen Arten der Bibliotherapie, die auf unterschiedliche Wirkmechanismen abzielt:

Bei der informativen oder instruktiven Bibliotherapie geht es um genau das: Information und Anleitung. Patienten werden mit Hilfe von Sachbüchern und Ratgebern über ihre jeweilige Problematik aufgeklärt und erhalten Lösungsvorschläge und Handlungsanweisungen. Das kann Sachliteratur über körperliche Erkrankungen wie Krebs oder Rheuma sein, aber auch über psychische Probleme oder Lebenskrisen wie Depressionen, Trauer oder Sucht.

Doch nicht nur Sachbücher können hier helfen. Auch Autobiografien von Betroffenen oder Romane, die sich um eine Figur mit der jeweiligen Erkrankung drehen, können neben reiner Information auch emotionale Bewältigungsstrategien aufzeigen und Betroffenen das Gefühl vermitteln, mit ihrer Krankheit oder Krise nicht alleine zu sein. Über die Identifikation mit den Figuren erreichen diese Bücher Kranke auf eine Art und Weise, wie Sachbücher es nicht leisten können: Hier geht es um Gefühle, und nicht einfach nur um harte Fakten. Diese “Krankengeschichten” vermitteln dem einen Akzeptanz einer kaum zu akzeptierenden Situation, dem anderen den Mut, sich durchzukämpfen. Wieder anderen helfen sie mit Humor über Schmerzen und Leid zumindest kurzfristig hinweg. Sich verstanden zu fühlen ist manchmal bereits der erste Schritt zur Besserung.

Bevor ich jetzt gehe
Ein guter Tag zum Leben
Die beste Depression der Welt

Das größte Behandlungsfeld der Bibliotherapie ist die sogenannte inspirierende Variante, die fiktive Literatur verschiedenster Art sowie Poesie benutzt, um eine breite Palette instabiler seelischer Zustände zu verbessern, von Beziehungsfrust und Liebeskummer bis hin zu schweren Depressionen und der Auseinandersetzung mit dem Tod.

Erich Kästner behielt 1936 seine “Lyrische Hausapotheke” immer in greifbarer Nähe. Von A-Z nach “Leiden” geordnet, enthält dieser Sammelband Gedichte gegen 36 verschiedene Bekümmernisse. Klingt abstrus? Ist es nicht, wie sich aktuell an dem britischen Verleger und Philanthropen William Sieghart zeigt, der seit ein paar Jahren seine “Poetry Pharmacy” betreibt: Menschen kommen zu ihm, erzählen von ihren Problemen, und bekommen von ihm das passende Gedicht dazu “verordnet”. Ursprünglich als unterhaltsames Event ins Leben gerufen, wurde das Konzept so erfolgreich, dass Sieghart eine eigene “Praxis” gründete und seine poetische Apotheke in bisher zwei sehr erfolgreiche Bücher packte.

Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke
The Poetry Pharmacy

Gedichte als Medizin: beruhigen, trösten, umarmen

Der Effekt ist nicht zu unterschätzen: Das richtige Gedicht zur richtigen Zeit kann uns regelrecht umarmen. Weil da jemand ist, der etwas ausdrücken kann, das wir auch gerade durchmachen, für das wir selbst aber nicht die richtigen Worte finden. Sieghart empfiehlt seinen “Patienten” das laute Vorlesen und sogar das Auswendiglernen. Wie ein beruhigendes Mantra wird das Gedicht so zum immer verfügbaren “Notfallpräparat”. Jeder, der schon einmal klaustrophobisch in einer MRT-Röhre ausharren, eine Panikattacke niederkämpfen oder ein weinendes Kind mit einem Reim beruhigen musste, kennt diese fast magische Wirkung. Vielleicht erleben deshalb dank moderner Poetinnen und Poeten Gedichtbände, wie die von Rupi Kaur, in unseren immer stressigeren Zeiten gerade eine Renaissance.

Milk and Honey
Gert Westphal liest "Die schönsten deutschen Gedichte"

Wie Lesen unser Gehirn positiv beeinflusst

Dass Lesen eine Wirkung auf das Gehirn hat, ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen. Gerade lautes Vorlesen erreicht unser limbisches System, in dem Emotionen reguliert werden. Bei Menschen mit neurologischen Problemen lassen sich geschwächte oder ausgefallene Regionen durch Lesen oder Vorlesen stimulieren. In depressiven Patienten, deren Vorstellungskraft erloschen ist, kann das richtige Buch die Phantasie wieder zum Leben erwecken. Es gibt sogar eine Studie der Yale-Universität, aus der hervorgeht, dass Menschen, die lesen, eine höhere Lebenserwartung haben.

Das gilt natürlich nicht nur für Poesie, sondern für sämtliche Arten von Literatur. Märchen werden schon lange dazu verwendet, Kinder vor Gefahren zu warnen oder ihnen Werte oder richtiges Verhalten zu vermitteln. Immer und immer wieder erzählt, setzen sich die enthaltenen Botschaften im Langzeitgedächtnis besser fest als jede Schulstunde.

In der Jugend- und Sozialarbeit benutzen Therapeuten Romane, in denen sich ihre Schützlinge wiederfinden und positive Handlungsalternativen zu ihrem Verhalten aufgezeigt bekommen. Oder aber solche, die Mut machen, schwierige Situationen zu überstehen wie Mobbing, Schwierigkeiten im Elternhaus oder psychische Probleme. Es gibt inzwischen sogar Jugendgerichte, die jungen Delinquenten statt Sozialstunden sogenannte Leseweisungen verpassen: Bücher, die sie lesen und mit einem Mentor reflektieren müssen.

Crazy
Nennt mich nicht Ismael!
Das also ist mein Leben

Mehr Einsicht und Empathie: Gefängnisinsassen werden mit Büchern therapiert

Im Justizvollzug von Erwachsenen wird Bibliotherapie ebenfalls genutzt. Zum einen kann Lektüre helfen, die Mauern durchlässiger erscheinen zu lassen, das Gefühl von Isolation und Gefangenschaft erleichtern und zumindest in Gedanken “auszubrechen”. Zum anderen zielt diese Art der “Behandlung” natürlich darauf, dass sich Straffällige mit ihren Taten auseinandersetzen. Es gibt in Brasilien sogar ein Hochsicherheitsgefängnis, das seinen Insassen für jedes gelesene und mit einem Therapeuten bearbeitete Buch ein paar Tage der abzusitzenden Strafe erlässt.

Der Vorleser
Der Graf von Monte Christo
Die Wand

Natürlich gibt es das große Feld der seelischen Achterbahn, mit der uns das Leben immer mal wieder überfordert, mit zahllosen Gefühlslagen und psychischen Schlaglöchern, über die Bücher zumindest ein bisschen hinweghelfen können.

Für Beziehungsfrust und Ehebetrug werden schon lange Klassiker wie “Madame Bovary” oder Anna Karenina empfohlen. Zur Unterstützung bei Depressionen eignet sich eigentlich alles, was der selbst davon betroffene Matt Haig geschrieben hat, als letztes “Die Mitternachtsbibliothek”, in der eine suizidale Frau in einer magischen Bibliothek ihr Leben in verschiedenen möglichen Versionen nachlesen kann.

Frisch zu empfehlen ist auch " Du darfst nicht alles glauben, was du denkst" von Comedian Kurt Krömer, alias Alexander Bojcan. Der Künstler erzählt von seinen Erfahrungen mit Depression und Alkoholsucht, schonungslos, aber auch mit Humor. Kein Leidens-, sondern ein authentischer Erfahrungsbericht.

Wer vom Trend der Yoga- und Self-Care-Jünger in den Wahnsinn getrieben wird, findet bei “Achtsam morden” das richtige Ventil. Die Buddenbrooks oder Jonathan Franzen können über dysfunktionale Familienzusammenkünfte hinweghelfen. Den Mut, sich auch in schwierigsten Situationen allein nicht unterkriegen zu lassen, zieht man hervorragend aus Robinson Crusoe oder dem modernen Sci-Fi-Pendant “Der Astronaut”.

Madame Bovary
Die Mitternachtsbibliothek
Du darfst nicht alles glauben, was du denkst
Achtsam morden
Freiheit
Der Astronaut

Auch in ausweglosen Situationen können Bücher einem die Hand halten. Wir kennen das alle: In harten Zeiten greifen wir gerne zu bereits gelesenen Lieblingstiteln. Schwerkranke, die kaum noch die Kraft für Neues aufbringen können, versinken wieder in Büchern aus Kindertagen. Das bringt Erinnerungen zurück an schöne Momente, als wir diese Bücher zum ersten Mal lasen. Vielleicht an Mutter oder Vater, die uns vorlasen. An einen schönen Urlaubsort mit dieser Lektüre auf dem Schoß.

Apropos Urlaub: Während der Pandemie, in der die ganze Welt mehr oder weniger zu Hause festgesessen und unter Einsamkeit gelitten hat, wurde wieder vermehrt gelesen. Besonderen Zuspruch fanden dabei gerade nicht düstere Dystopien oder apokalyptiscche Thriller - sondern Lese- und Hörstoff, der weit, weit weg transportiert vom beängstigenden und einschränkenden Alltag: Fantasy, historische Romane und Liebesromane. Eine andere Zeit, eine magische Welt, voller Abenteuer, Liebe und großen Gefühlen - das war (und ist) die beste Medizin gegen Quarantäne-Blues und Budenkoller.

Der Buchladen von Primrose Hill
Die verschwundene Schwester
Das Lied der Krähen
Die Mission des Kreuzritters

Die Bibliotherapie: Unterstützung bei Tod und Trauer

Ein besonders sprachloses Thema ist der Tod. Wo uns die Sprache versagt, hat ein Autor oder eine Autorin sie vielleicht schon gefunden. Es gibt Kinderkliniken, in denen einfühlsame Ärzte den Eltern krebskranker Kinder “Die Brüder Löwenherz” in die Hand drücken, um dem Tod ein sanftes Gesicht zu geben. Bei der Trauerarbeit unterstützen Titel wie “Extrem laut und unglaublich nah” oder - auf ganz ungewöhnliche Weise - “H wie Habicht”. Einem Sterbenden mag es ein Trost sein, mit Ovids “Metamorphosen” dem Entstehen, Sich-Verwandeln und Vergehen der Welt und ihrer Lebewesen beizuwohnen.

Die Brüder Löwenherz
Extrem laut und unglaublich nah
H wie Habicht
Metamorphosen

» Die besten Bücher zum Thema Trauerbewältigung

Bücher als Medizin: In England wird das Lesen bereits ärztlich verordnet

Das Lesen kann vieles sein: Flucht, Trost, Horizonterweiterung, Lehrstunde, ein Spiegelbild des eigenen Lebens oder der Blick in ein ganz anderes. Um einen Effekt zu erzielen, muss es uns “abholen”, über eine Gemeinsamkeit, eine ähnliche Erfahrung, eine Konstellation oder einen Traum, der in uns schlummert. Wir müssen etwas von uns selbst darin sehen - oder etwas ganz anderes, das uns zum Nach- und Umdenken bringt und uns neue Pfade weist. Lesen eröffnet Erfahrungsräume, an anderen Orten, zu anderen Zeiten, die wir im echten Leben gar nicht betreten könnten, aus denen wir aber etwas lernen. Schon ohne Therapeut und als “Selbstmedikation” werden die richtigen Bücher zu hilfreichen Freunden in der Not.

Professionell angewendet und therapeutisch begleitet, wird eine anerkannte Behandlungsmöglichkeit daraus. Sie wird in Deutschland leider noch viel zu wenig genutzt, obwohl es seit 1984 die "Deutsche Gesellschaft für Poesie- und Blibliotherapie" gibt, sowie ein paar zaghafte private Angebote und Workshops. In den USA, Skandinavien und in England ist man da schon weiter und hat das Potential der Bibiliotherapie erkannt. In England gibt es sogar eine Liste von Büchern, die Ärzte ihren Patienten ganz offiziell verschreiben können. Mit dem Rezept gehen diese dann in eine öffentliche Bibliothek und bekommen ihre Lektüre ausgehändigt.

Bibliotherapie? Do it yourself!

Lesen auf Krankenschein. Oder vielmehr Bücher als Medizin! Dieser scherzhafte Wunsch eines jeden Bücherwurms ist anderswo tatsächlich bereits Realität. Bis wir auch hierzulande vom Hausarzt ganz selbstverständlich heilende Lektüre verordnet bekommen, müssen wir uns eben unsere eigene literarische Hausapotheke zusammenstellen. Immerhin gibt bekommt ihr euren ersten heilenden Titel im Audible-Probemonat kostenlos.