Ihr neuestes Hörbuch heißt „Kindersorgen“. Können Sie mir kurz erklären, worum es darin geht?

„Kindersorgen“ ist ein Lehrbuch für Erwachsene, das ich geschrieben habe, um Eltern zu erklären, welche psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter vorkommen, wie sie darauf reagieren und darüber mit Kindern sprechen können, wie sie das diagnostisch einordnen und welche therapeutischen Schritte eingeleitet werden können.

Kindersorgen

Für wen haben Sie das geschrieben? Wen dürfte das interessieren?

Alle Menschen, die sich für Kinder interessieren und mit Kindern zu tun haben. Das sind im Wesentlichen pädagogische Berufe und Eltern.

Sie sprechen darin davon, dass die „sorgenlose Kindheit“ ein Mythos ist. Warum?

Wir denken von Kindern schnell, dass sie kleiner und niedlicher und ihre Sorgen damit auch leichter sind. Subjektiv gesehen haben die Sorgen und die Schwere des Alltags mit zunehmendem Alter ebenfalls zugenommen; früher war rückblickend gesehen alles unbeschwerter.

Ein Trugschluss?

Wenn man aber mit Kindern zusammen ist, dann merkt man: Kinder sind genauso ernsthaft wie wir und nehmen Dinge genauso ernsthaft wahr – nur in einer kindlichen Dimension. Mir ist deswegen wichtig zu betonen, dass „Kindersorgen“ und „Sorgenkinder“ komplett unterschiedliche Begriffe sind. Ich stelle mich sehr dagegen, dass wir einen defizitären Blick auf Kinder einnehmen und sie als Sorgenkinder betiteln.

Warum?

Mir war es ganz wichtig, das umzudrehen um zu zeigen: Ja, Kinder haben Sorgen und sie haben auch psychische Erkrankungen. Aber es geht darum, diese ernst zu nehmen, ohne sie zu dramatisieren.

Gerade machen wir alle keine leichte Zeit durch. Beobachten Sie, dass die Sorgen von Kindern, die zu Ihnen kommen, sich seit Beginn der Corona-Pandemie geändert haben?

Es ist eine Sorge dazugekommen. Aber eigentlich könnten wir Erwachsene auf die Kinder schauen, wie man mit Corona umgeht. Für Kinder ist jedes neue Ereignis etwas, das sie zutiefst gewohnt sind.

Können Sie das erklären?

Wir haben ganz viel Routine in unserem Leben und Kinder erleben jeden Tag etwas Neues, womit sie zurechtkommen müssen. Ob das Neue dann „Weihnachten“ oder „Corona“ heißt, ist eigentlich von der Qualität her egal. Entscheidend ist der Umgang der Eltern damit. Wir haben das am UKE untersucht und die Kinder sind zwar belasteter, aber das sind wir Erwachsenen auch – und es wäre komisch, wenn Kinder weniger belastet wären. In unseren Therapien machen wir die Erfahrung, dass die Kinder froh sind, dass endlich mal nicht über Corona gesprochen wird, sondern über ihre Themen.

„Kinder sind durch Corona belasteter, aber das sind wir Erwachsenen auch.“

Michael Schulte-Markwort

Wie viele „Erwachsenensorgen“ können Erziehungsberechtigte ihren Kindern zumuten?

Nur das, was wirklich unvermeidlich ist. Natürlich muss man bestimmte Dinge mit Kindern besprechen. Wenn Eltern durch Homeoffice sehr belastet sind und Homeschooling nicht so gut begleiten können, müssen sie das adressieren. Was aber nicht zu den Kindern gehört, sind eigene Sorgen, die die Eltern sich machen und die nur etwas mit ihnen zu tun haben, oder eigene Belastungen, zum Beispiel, dass sie sich danach sehnen, wieder ins Büro zu dürfen. Wenn das Ausmaß zu groß wird, machen Kinder sich zusätzliche Sorgen um ihre Eltern.

Wie können Eltern ihren Kindern trotz aller Unsicherheiten gerade ein sicheres Gefühl vermitteln?

Wir alle – also nicht nur die Kinder – brauchen ein im Grundsatz ausreichend optimistisches Gefühl, dass wir diese Krise solidarisch durchstehen. Uns muss zwar klar sein, dass wir zwar einen bestimmten Prozentsatz an toten Menschen zu beklagen haben werden, aber trotzdem als Gesellschaft diese Krise bewältigen können. Das wird ja auch so sein, denn selbst die pessimistischsten Hochrechnungen geben nicht her, dass wir alle sterben. Von daher geht es darum, sich ausreichend realistisches und optimistisches Bild zu machen und das zu vermitteln. Und den Kindern vorzuleben, wie man Solidarität lebt.

Wie können Eltern ihre Kinder in der Krise stärken?

Ich empfehle, möglichst die Tagesstruktur einzuhalten, die auch ohne Homeschooling angesagt war. Das heißt, alle stehen nach Möglichkeit zur selben Zeit auf, alle treffen sich beim Frühstück, alle sind angezogen. Dann überlegt man sich für den Tag einen gemeinsamen Stundenplan und klärt, wer wo arbeitet, wann gemeinsame Pausen gemacht werden und so weiter. Das geht nicht immer, das weiß ich. Wenn man aber versucht, sich danach zu richten und diese Struktur aufrecht zu erhalten, ist das für alle hilfreich.

Familienjahre

Gerade heißt es häufig, dass Kinder unter der mit dem Lockdown einhergehenden Isolation leiden. Ist das wirklich der Fall?

Dem muss ich widersprechen. Das ist altersabhängig. Bei den Kindergartenkindern kann es gut sein, dass ihnen mal ein Freund fehlt. Bei den Grundschulkindern machen wir die Erfahrung, dass sie super froh darüber sind, mit Mama oder mit Papa lernen zu dürfen. Wir hören von einigen Kindern, dass sie gemerkt haben, dass sie ohne Lehrer viel besser sind, dass sie schneller sind, wenn sie Aufgaben allein erledigen, oder dass Papa viel besser Mathe erklären kann als der Mathelehrer.

Einige Kinder kommen also im Homeschooling gut zurecht. Aber was ist mit der sozialen Komponente?

Ich finde es wichtig, dass wir endlich mit dem Mythos aufräumen zu glauben, dass Kinder gerne jeden Tag mit 25 anderen Kindern in einem Raum sind. Natürlich gibt es Kinder, die gerne in Gruppen sind – aber nicht mit 25 Kindern. Das ist eine Zahl, die sich psychisch gar nicht überblicken lässt. Wenn ich Erwachsene frage, wie groß ihr Freundeskreis ist, wird dabei gerne zehn als Zahl genannt. Das ist das, was man emotional überblicken kann. Nur bei Kindern machen wir das anders, die haben ständig 25 andere Kinder um sich. Das hat mit preußischen Regularien zu tun. Auch der 45-Minuten-Takt stammt aus der preußischen Zeit, der hat aber nichts mit einem Lernrhythmus zu tun.

Sie sagten, ob Kinder mit der Isolation gut klarkommen, hänge vom Alter ab. Welche Altersgruppen haben größere Probleme?

Wir haben mit Kindern zu tun, die die Umstellung viel schneller abwettern, aber wir haben natürlich mit Jugendlichen zu tun, denen das schwerer fällt. Sie sind aber immerhin digital unterwegs, wissen umeinander und tauschen sich aus. Wer es wirklich richtig schwer hat sind die Abiturienten, die werden um ihr Abitur betrogen und das Schöne, das damit einhergeht. Auch die Erstsemester haben es gerade besonders schwer, weil die anfangen zu studieren ohne einander zu kennen. Da müssen wir viel Motivationsarbeit leisten.

Worüber ich jetzt allerdings noch nicht gesprochen habe sind die Familien, die unter beengten Verhältnissen leben, die sich keine Masken leisten können, wo die Kinder nicht gut mit digitaler Technik ausgestattet sind.

Wie wirkt sich die Pandemie auf diese Kinder aus?

Die Benachteiligung wird umso größer. Allerdings muss man auch sagen, dass die Inanspruchnahme in allen kinderpsychologischen Praxen und Kliniken nicht zugenommen hat. Es gab auch viele Prognosen von Jugendämtern die gesagt haben, die Gewalt in Familien wird zunehmen, aber bislang gibt es dazu keine Zahlen, die das bestätigen würden. Gleichwohl will ich auch das nicht übersehen und alles nur rosig reden! Die meisten Kinder kriegen das alles wirklich fantastisch hin. Aber es gibt eine Gruppe, die benachteiligt ist, um die wir uns eigentlich intensiver kümmern müssten. Aber dafür müssten die Jugendämter wieder Hausbesuche machen.

Wird es für manche Kinder, die gerade im Homeschooling so gut klarkommen, potenziell schwierig wieder in die Schule zu gehen? Oder gewöhnen sie sich auch daran wieder schnell?

Ich bin darauf eingestellt, dass wir Kinderpsychiater darum kämpfen werden, die Präsenzpflicht zu relativieren. Ich habe wirklich Kinder, die einem extremen sozialen Stress ausgesetzt sind. Deren Leistungen leiden darunter. Wenn wir die zu Hause alleine lernen lassen, dann ist alles gut. Ich kämpfe zur Zeit dafür, dass sie nicht bei allen Fächern jeden Tag anwesend sein müssen, sondern dass sie den Stoff anders bewältigen können.

Meinen Sie, das deutsche Schulsystem ist für so etwas bereit?

Da sperrt sich in Schulen alles dagegen. Präsenzunterricht um jeden Preis halte ich für großen Unsinn. Mir kann auch niemand erklären, wie das funktionieren soll, wenn Jugendliche mit 17 oder 18 noch volle Präsenzpflicht haben und dann ein Jahr später ganz anders und viel freier studieren sollen.

„Präsenzunterricht um jeden Preis halte ich für großen Unsinn.“

Michael Schulte-Markwort

Davon sind also viele überfordert?

Ja, weil sie es nicht gewohnt sind. Wir bereiten Schüler nicht darauf vor, frei zu lernen. Aber trotzdem trauen wir es ihnen zu. Am Ende schaffen ja auch die meisten ihr Studium, aber der Weg dahin ist für viele nicht leicht.

Kommen wir zu den Alltagssorgen zurück: Wie erkennen Eltern, welche Sorgen einer Therapie bedürfen?

Da gibt es zwei Faktoren, die eine Rolle spielen: Intensität oder Schweregrad und Zeit. Bei einem Kind, das eine vorübergehende Schwere hat oder ein Jugendlicher, der 14 Tage lang Liebeskummer hat, würde niemand auf die Idee kommen es zur Therapie zu bringen. Wenn das aber sechs oder acht Wochen mit derselben Symptomatik anhält, dann möchte ich das Kind gerne sehen. Ich appelliere immer an die elterliche Expertise.

Gibt es Kinder oder Jugendliche, die partout nicht zu Ihnen wollen?

Es gibt Jugendliche, die sagen, sie seien doch keine Psychos. Dann sind die Eltern alleine bei mir und ich schreibe den Jugendlichen einen Brief, in dem ich sage, dass sie sich sicherlich wundern, wieso sie einen Brief von einem Kinderpsychiater kriegen, den sie gar nicht kennen, dass aber ihre Eltern bei mir waren und sie doch bitte mal vorbeikommen möchten. Wenn sie dann das Gefühl haben, ich hätte ihnen ein Problem an die Backe geredet, brauchen sie nie mehr zu kommen.

Also kommen die Jugendlichen auch wirklich zu Ihnen?

Absolut. Und zwar immer dann, wenn ich mich auf die Seite des Leidens schlage. Wenn sie den Eindruck haben, dass ich normativ unterwegs bin und ein Maß an sie anlege, dann ist es falsch. Aber wenn ich sage, dass ich sehe, dass sie leiden, traurig oder wütend sind oder Angst haben, dann sind sie mit mir in einem Boot.

Schämen Kinder sich dafür zur Therapie zu gehen?

Immer weniger. Ich bin ja schon seit ein paar Jahren in der Öffentlichkeit unterwegs, weil ich immer dafür sorgen wollte, dass die Schwelle der Stigmatisierung sinkt. Und die sinkt nur, wenn man offen damit umgeht. Ich bin viel in Schule und spreche in Anwesenheit von Kindern, die bei mir in Therapie sind, mit der Klasse über deren Störung. Ich mache immer die Erfahrung, dass dann alle verständnisvoll reagieren. Wenn ich frage, wer von den Kindern eine psychische Störung kennt, sind alle Finger oben. Dann entstehen sehr spannende Dialoge. So sind die Kinder, die wir in der Klinik haben, auch. Die sind sensibel und respektvoll. Wenn man Kindern mit Respekt begegnet, dann antworten sie mit Respekt.